Foto: BGR
Dieses Interview wurde online von William Edelglass, Studiendirektor am Barre Center for Buddhist Studies, geführt. Es erschien gleichzeitig bei Buddhist Global Relief und in der Juni-Ausgabe des Insight Journals. Verwendung und Übersetzung ins Deutsche mit freundlicher Genehmigung des Interviewers und des Interviewten. Veröffentlicht am: 15. Juni 2024. Ven. Bhikkhu Bodhi ist der Gründer und Vorsitzende von Buddhist Global Relief und der Schirmherr von Mitgefühl in Aktion e.V.
William Edelglass: Ehrwürdiger Bhikkhu Bodhi, Sie sind vor allem als Gelehrter und Übersetzer buddhistischer Texte bekannt, aber in den letzten Jahren sind Sie auch als buddhistischer Aktivist hervorgetreten. Wie kam es zu diesem Wandel in der Ausrichtung Ihres Lebens?
Bhikkhu Bodhi: Ich würde mich nicht als „Aktivist" bezeichnen, sondern eher als einen Theoretiker, der engagierten buddhistischen Aktivistinnen und Aktivisten die Türen zur Theorie öffnet, damit sie eine Grundlage für ihr Engagement im Handeln finden. Lassen Sie mich kurz erklären, wie ich in diese Rolle geraten bin. Bevor ich mich mit dem Buddhismus beschäftigte, betrachtete ich mich als sozial und politisch fortschrittlich. Mitte der 1960er Jahre schloss ich mich der Protestbewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam an und sympathisierte mit der Bürgerrechtsbewegung. Wie viele junge Menschen dieser Zeit teilte ich die Hoffnung, dass wir endlich in eine Ära der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit eintreten würden, in der alle Missstände weltweit beseitigt werden würden – eine Ära, die in Bob Dylans Lied "The Times They Are a-Changin'" beschrieben ist.
In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen. Als ich an der Claremont Graduate University in Philosophie promovierte, freundete ich mich mit einem vietnamesischen Mönch an der Universität an, der mein erster buddhistischer Lehrer wurde. Je mehr ich mich mit dem Buddhismus beschäftigte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass Projekte, die auf soziale und politische Erneuerung abzielen, nur eine oberflächliche Lösung für unsere Probleme darstellen. Ich glaubte, ich könnte mehr für die Welt tun, wenn ich an mir selbst arbeitete.
Als ich im Spätsommer 1972 die USA in Richtung Sri Lanka verließ, war mein Interesse an politischen und sozialen Fragen fast verschwunden. Stattdessen wollte ich mich in das Studium und die Praxis des Dhamma stürzen, das ich als eine persönliche Reise zur Befreiung verstand. Ich wusste, dass die günstigste Voraussetzung, diesen Weg zu gehen, darin bestand, ein buddhistischer Mönch zu werden, und ich war überzeugt, dass ich anderen am besten helfen konnte, indem ich als eine Art Vorbild diente und die Lehren des Buddha weitergab.
Meine relative Gleichgültigkeit gegenüber sozialen und politischen Fragen setzte sich in den ersten zwölf Jahren meines Lebens als Mönch fort. 1984 lebte ich mit dem deutschen Mönch, dem Ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera (1901-1994) in der Forest Hermitage im Udawattakele Nationalpark nahe der Stadt Kandy im Landesinneren. Der Ehrwürdige Nyanaponika war 1936 nach Sri Lanka gekommen und von dem ersten deutschen Mönch, dem Ehrwürdigen Nyanatiloka Mahathera (1878-1957), ordiniert worden. Zusammen mit zwei Laien gründete er 1958 die Buddhist Publication Society (BPS), deren Präsident und langjähriger Verleger er war. Als ich 1984 seine Nachfolge antrat, beschloss er, seine Ämter an mich weiterzugeben. 1984 wurde ich Redakteur der BPS und 1988 ihr Präsident. Ich sah mich nun neuen Aufgaben gegenüber, mit denen ich in den ersten Jahren meiner Ausbildung nicht gerechnet hatte. 1985 begann der BPS, einen vierteljährlichen Newsletter herauszugeben, und ich musste für jede Ausgabe einen redaktionellen Beitrag verfassen. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht reichte, in dieser Kolumne lediglich grundlegende buddhistische Lehren und Praktiken darzulegen. Meiner Meinung nach sollte ich auch erörtern, welche tiefen Einsichten die Lehren des Buddha bezüglich der Herausforderungen bieten, denen wir in der modernen Welt gegenüberstehen.
Dieses Projekt zwang mich dazu, meinen Blickwinkel zu erweitern und mich nicht nur auf die klassischen Formulierungen der Lehren des Buddha zu konzentrieren. Gleichzeitig bemerkte ich, während ich mit dem Ehrwürdigen Nyanaponika zusammenlebte, dass er selbst ein reges Interesse an aktuellen Ereignissen hatte. Ich konnte beobachten, dass ihn Nachrichten über aktuelle Ereignisse nicht aus weltlichem Interesse an der Politik beschäftigten, sondern aus tiefer Empathie mit der Menschheit und Sorge um die Zukunft der Welt heraus. Meine enge Zusammenarbeit mit dem Ehrwürdigen Nyanaponika, über einen Zeitraum von zehn Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1994, veränderte allmählich meine eigene Einstellung zum Weltgeschehen. Meine progressiven sozialen Anliegen erwachten allmählich wieder, aber ich brauchte noch einen Szenenwechsel, bevor sie sich voll entfalten konnten.
Diese Gelegenheit ergab sich 2002, als ich nach zwanzig Jahren in Asien in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Hier hatte ich uneingeschränkten Zugang zum Internet und konnte Websites besuchen, die ausführlich über globale Ereignisse berichteten und Artikel veröffentlichten, die diese Themen aus einer politisch progressiven Perspektive beleuchteten. Als ich sah, wie der Buddhismus in diesem Land assimiliert wurde, fiel mir der Kontrast auf zwischen den riesigen Wellen des Leidens, die über die Weltbevölkerung hereinbrechen, von denen ich über das Internet erfuhr, und der selbstgefälligen, fast selbstverliebten Haltung vieler amerikanischer Buddhisten zu beobachten war. Viele amerikanische Mittelklasse-Buddhistinnen schienen sich des Elends, das 90 Prozent der Weltbevölkerung bedrückte, kaum bewusst zu sein – Elend aufgrund von Armut, sozialer und politischer Unterdrückung, Militarismus und der wirtschaftlichen Globalisierung. Es schien, als würde der Buddhismus selbst eher als ein bequemer Weg zur persönlichen Verwirklichung aufgefasst, denn als ein Werkzeug, um sich mit den tiefsten Wurzeln des Leidens, des eigenen wie des Leidens anderer, zu beschäftigen und sie anzugehen. Mit einiger Bestürzung stellte ich fest, dass der Buddhismus zwar Qualitäten wie Güte und Mitgefühl preist, dass aber zu viele zeitgenössische buddhistisch Praktizierende dazu neigen, diese Tugenden in erster Linie als subjektive innere Zustände und nicht als Ansporn für transformatives Handeln zu betrachten.
Als ich über meine Bedenken sprach und schrieb, reagierten mehrere meiner Studierenden und buddhistischen Freundinnen und Freunde darauf, und wir begannen uns darüber auszutauschen, wie wir gemeinsam eine angemessene buddhistische Mitverantwortung in der heutigen Welt zum Ausdruck bringen könnten. Das Ergebnis unserer Diskussionen war die Gründung von Buddhist Global Relief (BGR) im Jahr 2008. Zu Beginn gaben wir uns ein weit gefasstes Mandat: "Wir wollen uns um die Not der Menschen weltweit kümmern, die von Armut, Naturkatastrophen und gesellschaftlicher Vernachlässigung betroffen sind." Wir beschlossen, uns dabei auf chronischen Hunger und Unterernährung zu konzentrieren. Unsere Arbeit haben wir gegen Ende 2008 mit drei kleinen Projekten begonnen. Heute, fünfzehn Jahre später, unterstützt die BGR 60 Projekte in vielen Ländern weltweit, unter anderem der Mongolei, Vietnam, Kenia, Kamerun, Nicaragua, Haiti, und den USA. Chronischer Hunger ist mit einer Reihe anderer Probleme verwoben, weshalb die Projekte der BGR nicht nur direkte Nahrungsmittelhilfe leisten, sondern auch die Bildung von Mädchen, die Existenzsicherung von Frauen und ökologisch nachhaltige Landwirtschaftsmodelle fördern. Diese Projekte haben Tausende von Menschen aus ihrer entwürdigenden Armut befreit und ihnen eine neue Lebensperspektive gegeben. Gelegentlich leisten wir auch Nothilfe, obwohl die BGR keine Katastrophenhilfeorganisation ist.
Im Jahr 2017, nach der Amtseinführung von Donald Trump als Präsident der USA, hatten einige von uns im Raum New York Lebende das Bedürfnis, eine buddhistische Organisation zu gründen, die einigen der repressiven Maßnahmen der neuen Regierung entgegenwirken könnte. Wir beriefen im Februar 2018 eine Versammlung am Union Theological Seminary ein, an der über 200 Buddhistinnen und Buddhisten aus ganz New York teilnahmen und die in der Gründung der NYC Buddhist Action Coalition gipfelte. Leider haben im Laufe der Zeit immer mehr Menschen die Gruppe wieder verlassen. Die Kontaktbeschränkungen aufgrund von Covid verhinderten persönliche Treffen, aber wir rangen auch damit, eine passende Organisationsstruktur und eine klare, eindeutige Vision und entsprechende Werte, für die Gruppe zu formulieren. Da ich im Norden des Landes lebe, habe auch ich mich zurückgezogen. Aber die Mitglieder in der Stadt treffen sich weiterhin, und seit kurzem halten sie auf dem Union Square Meditationen im Freien für den Frieden im Nahen Osten ab.
WE: Sie haben Ihr Leben dem Studium und der Praxis der klassischen buddhistischen Lehren gewidmet. Einer der Sammelbände mit Ihren Übersetzungen ist The Buddha's Teachings on Social and Communal Harmony (Dt: Die Lehren des Buddha zu einer sozialen und harmonischen Gesellschaft, erschienen im Verlag Beyerlein&Steinschulte). Können Sie uns beschreiben, was Sie an den Lehren des Buddha über soziale und gemeinschaftliche Harmonie heute für besonders wichtig halten?
BB: Der Inhalt des Buches ist sehr breitgefächert, und so fällt es mir schwer, bestimmte Passagen herauszugreifen, die für eine soziale und gemeinschaftliche Harmonie heute relevant sein könnten. In dieser Sammlung wird aber ganz deutlich, dass der Buddha, obwohl er sich von der Welt abwandte, niemand war, der zurückgezogen in einsamer Ruhe lebte, sondern dass er sich aktiv mit den Gesellschaften um ihn herum beschäftigte. In dieser Hinsicht, so glaube ich, unterschied er sich erheblich von seinen Zeitgenossen. Man könnte sogar sagen, dass der Buddha eine neue Art von Gesellschaft – ja sogar eine neue Zivilisation – anstrebte, die in scharfem Kontrast zur brahmanischen Gesellschaft seiner Zeit stand. Da sich das brahmanische Modell aber immer mehr durchsetzte, wäre es für den Buddha wohl schwierig gewesen, aktiv eine völlige Umgestaltung des nordindischen Gesellschaftssystems vorzuschlagen. Aber die von ihm aufgestellten Prinzipien – die den göttlichen Ursprung des Kastensystems ablehnten und dem menschlichen Wohlergehen auf mehreren Ebenen Vorrang einräumten – hatten das Potenzial, als Blaupause für eine neue Gesellschaft zu dienen. Seine Ideen konnten aber da wirksam werden, wo der Dhamma in Regionen übertragen wurde, die von der brahmanischen Dominanz befreit waren.
Das Buches ist so gegliedert, dass das zugrundeliegende Programm zur sozialen Transformation deutlich wird, das wir an verschiedenen Stellen in den kanonischen Sammlungen der Lehren des Buddha entdecken können. Das Entscheidende an diesem Programm ist die Betonung einer moralischen und geistigen Kultivierung als Grundlage für soziale und gemeinschaftliche Harmonie. Aus diesem Grund enthält das Buch auch einzelne Kapitel zu Themen wie rechte Sichtweise, Geistesschulung, rechte Rede, Umgang mit Ärger und gute Freundschaft, denn dies alles trägt entscheidend zum Erfolg einer Gemeinschaft bei.
Der Buddha hat in seiner Rolle als spiritueller Lehrer zwei bedeutsame Aufgaben mit sozialen Dimensionen übernehmen müssen. Die eine bestand darin, dass er einen monastischen Orden gründete, der aus Menschen bestand, die ihre menschlichen Schwächen in das monastische Leben einbrachten und daher Strukturen, Richtlinien und Vorschriften benötigten, um ihre spirituelle Entwicklung im Rahmen einer lebensfähigen, effektiven monastischen Institution voranzutreiben, die den Dhamma auch in Zukunft bewahren konnte. Die andere Aufgabe, mit der er konfrontiert war, bestand darin, Richtlinien für die Gesellschaft jenseits der Grenzen der monastischen Gemeinschaft zu schaffen. Hier muss der Buddha auf seinen Hintergrund als Kshatriya, als ein Mitglied der Verwaltungsklasse, zurückgegriffen haben. Zu dieser Zeit herrschten in Nordindien zwei konkurrierende politische Modelle vor. Das eine war das der alten Stammesrepubliken, die im Niedergang begriffen waren, das andere das der Monarchien, die sich die älteren Republiken einverleibten. Der Buddha versuchte, die destruktiven Triebe der ehrgeizigen Könige zu zügeln, indem er das Ideal des "raddrehenden Monarchen" schuf, der sich in seiner Regentschaft einer höheren moralischen Autorität, der des Dhamma, unterwirft. So sagt der Buddha, dass eine der Pflichten des rechtschaffenen Herrschers darin besteht, dafür zu sorgen, dass es in seinem Reich keine Armut gibt. In der heutigen Welt und auch in den USA, wo wir große Ungleichheiten in Bezug auf Reichtum und Macht sehen, scheint diese Lehre außerordentlich relevant und vorausschauend zu sein.
WE: Bhikkhu Bodhi, obwohl Sie ein Leben geführt haben, das zutiefst vom monastischen Kodex geprägt ist, und Ihr Denken in den frühen buddhistischen Texten verankert ist, haben Sie sich sehr aktiv dafür eingesetzt, die Lehren des Buddha in der heutigen Welt konkret wirksam werden zu lassen, und haben zum Beispiel über den Klimawandel gesprochen. Wie sehen Sie Ihr Engagement in der heutigen Welt als Teil Ihrer buddhistischen Praxis?
BB: Meines Erachtens sollte der Dhamma nicht als eine statische Lehre gesehen werden, die vollständig und perfekt für alle Zeiten in den Lehren dessen verkörpert ist, was jetzt als "früher Buddhismus" bezeichnet wird. Ich glaube vielmehr, dass der Dhamma ein lebendiger spiritueller Organismus ist, der sich als Reaktion auf die Bedingungen der Kultur und Gesellschaft, in die er eingebettet ist, weiterentwickeln muss, indem er die ihm innewohnenden Möglichkeiten entfaltet und zum Ausdruck bringt. Diese mögen in früheren Epochen nur latent vorhanden sein und zeigen sich erst im Laufe der Zeit, wenn die sich verändernden sozialen und kulturellen Bedingungen – und die neuen Einsichten scharfsinniger buddhistischer Gelehrter – sie ans Licht bringen.
Dies gilt insbesondere für die ethischen Lehren des Buddhismus. Wir können davon ausgehen, dass der Buddhismus mindestens drei Entwicklungsstufen durchlaufen hat, jede mit einer entsprechenden Ethik: eine traditionelle Stufe, eine moderne Stufe und eine postmoderne Stufe. Jede dieser Stufen hat ihre eigenen Unterteilungen, aber der Einfachheit halber gehen wir jetzt mal von den drei Hauptstufen aus. Alle historischen Formen des Buddhismus, mit denen wir es heute zu tun haben – Theravada, Mahayana und Vajrayana – haben sich in der traditionellen Phase entwickelt, und ihre Ethik spiegelt die vorherrschende Sichtweise einer vormodernen Kultur wider, auch wenn sie sich durch die Traditionen unterscheiden. Die moderne Phase ist meines Erachtens als Reaktion der buddhistischen Traditionen auf den Kontakt mit dem Westen entstanden – mit dem westlichen Kolonialprojekt, den christlichen Missionen und der modernen Wissenschaft und anderen Herausforderungen. Viele der Stränge, die diese Phase kennzeichnen, sind von David McMahan in seinem Buch The Making of Buddhist Modernism untersucht worden, so dass ich hier nicht näher darauf eingehen muss. In Asien können wir Manifestationen der ethischen Dimensionen der buddhistischen Moderne in Versuchen sehen, sich christlich inspirierte Projekte des humanitären Dienstes und des sozialen Aufstiegs als Vorbild zu nehmen. Diese wurden größtenteils von buddhistischen Laien angeführt, jedoch mit der Unterstützung prominenter Mönche im Hintergrund. In der Welt des ostasiatischen Buddhismus finden sich Ausdrucksformen des buddhistischen Modernismus in Taixus "Buddhism for Human Life ", in Yinshuns "Human Realm Buddhism" und in den eher pragmatischen Adaptionen ihrer Ideen durch die Organisationen Dharma Drum, Tzuchi Foundation und Buddha's Light in Taiwan.
Wir leben heute in einer Kultur, die sich zwischen Moderne und Postmoderne bewegt. In einer postmodernen Kultur stehen die Religionen vor der Aufgabe, sich aktiver mit der Welt auseinanderzusetzen, aber auf eine Art und Weise, die partikulärer und spezifischer, aber auch durchdringender ist, als in der früheren Phase der Moderne. In einer postmodernen Kultur richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie sich verschiedene Lebensbereiche, verschiedene "Lebenswelten" überschneiden und gegenseitig durchdringen und in einer Zeit, in der universelle, allumfassende Narrative nicht mehr stichhaltig sind, an Relevanz für viele Menschen auf der Suche nach Sinn gewinnen. Aus ethischer Sicht dient eine religiöse Lehre in einer solchen Kultur nicht nur als Wegweiser zu einem wie auch immer gearteten Zustand der "Befreiung", sondern auch als Kraft des Gewissens, um unser gemeinschaftliches Handeln – einschließlich sozialer und politischer Programme – in Richtung einer Vision des Guten zu lenken, die den ethischen Idealen am besten entspricht. Daher müssen wir als Buddhistinnen und Buddhisten am Rande einer postmodernen Kultur meiner Meinung nach besonderen Wert darauf legen, uns mit allen Bereichen auseinanderzusetzen, in denen sich unser Leben entfaltet, einschließlich der politischen Sphäre.
Der Unterschied zwischen einem modernistischen und einem postmodernistischen Ansatz bei dieser "weltlichen" Anwendung des Dharma liegt in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Art und Weise, wie die Lehren angepasst werden, um die vielen Anliegen einzuschließen, die auf unser Bewusstsein einwirken. So sind wir beispielsweise Zeuginnen und Zeugen der Entstehung einer buddhistischen Ethik von race, einer Umweltethik, einer Ethik, die sich um sexuelle und geschlechtliche Identitäten dreht, einer Ethik, die im Streben nach einer gerechteren Wirtschaft zum Ausdruck kommt und so weiter. Wir können vielleicht den Keim dieser Ideen in den klassischen buddhistischen Texten finden, aber solche Ideen wurden nie zuvor so vollständig artikuliert und erläutert wie heute. Postmoderne Tendenzen können auch in der Bereitschaft von Buddhistinnen und Buddhisten aus verschiedenen Traditionen gesehen werden, den Wert anderer Traditionen (einschließlich nichtbuddhistischer Formen der Spiritualität) anzuerkennen und von ihnen zu lernen, sich sogar auf ihre Praktiken einzulassen. Dies führt zu verschiedenen Formen der gegenseitigen Befruchtung und Hybridisierung. Eine postmoderne Orientierung zeigt sich darin, dass es mehr und mehr kleine, lokale Sanghas gibt, die nicht von großen Dachorganisationen abhängig sind, und dass in der Entstehung neuerdass es viele neue Ausdrucksformen des Dhamma gibt, von denen einige sicher etwas unkonventionell sind.
Wenn ich mir unsere derzeitige globale Situation anschaue, können wir meiner Meinung nach drei große Bereiche des menschlichen Lebens unterscheiden. Der eine ist der transzendente Bereich, die Sphäre der Erleuchtung und Befreiung, die Verwirklichung des nirvanischen Friedens und der Freiheit, die der klassische Buddhismus anstrebt. Der zweite ist der soziale Bereich, der sowohl die zwischenmenschliche Ethik als auch unsere politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strategien und Organisationsformen umfasst. Und der dritte Bereich ist der natürliche, der unseren physischen Körper, andere fühlende Wesen und die natürliche Umwelt einschließt. Aus meiner heutigen Sicht wird eine Spiritualität, die das Transzendente bevorzugt und die sozialen und natürlichen Bereiche abwertet oder sie bestenfalls als Sprungbrett zu höherer Verwirklichung betrachtet, unseren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht gerecht. Meines Erachtens erfordert unsere kollektive Zukunft eine integrale Art von Spiritualität, welche die drei Bereiche des menschlichen Lebens integriert.
Das bedeutet, dass wir unter dem Antrieb von Liebe und Mitgefühl die Weisheit, die wir aus unseren Einsichten in das Transzendente gewonnen haben, zurück in die Welt bringen müssen, um den sozialen und natürlichen Bereich in einer Weise zu transformieren und umzugestalten, die von der transzendenten Verwirklichung oder zumindest von den Prinzipien, die eine solche impliziert, geleitet wird. Im sozialen Bereich müssen wir nach Regierungsmodellen streben, die Gerechtigkeit, Gleichheit, Mitgefühl und gemeinsamen Wohlstand beinhalten. Im Bereich der Natur müssen wir lernen, den Eigenwert der Natur zu respektieren, andere Lebewesen mit Sorgfalt und Ehrfurcht zu behandeln und dafür zu sorgen, dass die natürliche Welt ihre Selbstregenerationsfähigkeiten bewahrt, damit künftige Generationen einen lebenswerten und blühenden Planeten von uns erben können.
Ich bin der Meinung, dass es heute unsere Pflicht als Buddhistinnen und Buddhisten ist, uns nicht von den Leiden der Welt abzuwenden und sie salopp als "das Wesen von Samsara" abzutun. Vielmehr müssen wir unseren Blick weit und klar über die globale Landschaft schweifen lassen und das unermessliche und oft unerträgliche Leiden erkennen, das die menschliche Bevölkerung – und andere Lebensformen – plagt, insbesondere in den Teilen der Welt, die normalerweise nicht in unser Bewusstsein dringen. Wenn wir nationale und globale Probleme vom Standpunkt einer buddhistischen Mitverantwortung aus betrachten, müssen wir uns bemühen, die tiefen und verborgenen Ursachen zu verstehen, die diesem Leiden zugrunde liegen. Dann müssen wir Wege zu finden suchen, um dieses Leiden wirksam und entschlossen zu lindern, und zwar in einem Geist und mit Mitteln, die am besten mit dem Dhamma übereinstimmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Leiden aus unterdrückerischen und ausbeuterischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen herrührt – Systemen, die systemisches oder strukturelles Leiden schaffen. Während wir selbst vielleicht in relativem Komfort und Sicherheit leben, zerstören diese Systeme das Leben von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt, deren Gesichter wir nie sehen und deren Namen wir nie kennen werden. Aber wir können unseren Teil dazu beitragen, dieses Leid zu lindern.
Der Buddha versuchte selbst, die säkularen Implikationen des Dhamma vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit aufzuzeigen, und zwar innerhalb der Beschränkungen seiner eigenen Kultur. Während man von den Entsagenden jener Zeit erwartete, dass sie sich völlig von weltlichen Belangen loslösten, zeigte der Buddha ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, wie die Ethik die Bereiche des Handelns leiten sollte. Da wir heute in einem demokratischen Land – oder zumindest in einem Land mit demokratischen Institutionen – leben, tragen wir gemeinsam die Verantwortung, die Realität der Welt, in der wir leben, für uns selbst wie auch für unzählige andere mitzugestalten. Und das bedeutet, dass wir der höchsten ethischen Perspektive zufolge die Verpflichtung haben, uns um eine Welt zu bemühen, die für alle funktioniert, nicht nur für die Wohlhabenden.
Genau an dieser Stelle stehe ich einem Großteil der Rhetorik des zeitgenössischen Buddhismus kritisch gegenüber. Es scheint mir, dass der moderne Buddhismus sich dem verschrieben hat, was wir "das Glücksprojekt" nennen könnten, das heißt, der Idee, dass es für uns ausreicht, die Menschen zu lehren, wie sie Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment üben können, um Glück und Frieden in ihrem täglichen Leben zu finden. Das mag ja alles schön und gut sein, aber, so frage ich, ist das ausreichend? Reicht das aus für Menschen, die mit gefährlicher Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitslosigkeit, fehlender Gesundheitsversorgung, astronomischen Gesundheitskosten, immensen Universitätsschulden, gewaltigen Wohnkosten, zunehmenden Klimakatastrophen, ausufernder Waffengewalt, der Gefahr autoritärer Herrschaftssysteme, dem Aufkommen einer repressiven Machokultur und so weiter konfrontiert sind? Können wir die Menschen einfach lehren: "Praktiziere Achtsamkeit und genieße dein Leben, dann wirst du glücklich und in Frieden leben?“ Vielleicht wird das bei einigen funktionieren, aber meiner Meinung nach sollten wir eine scharfe und klare, im Dhamma verwurzelte kritische Sicht entwickeln, welche die vorherrschenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Modelle in Frage stellt, die unsere gemeinsame Zukunft gefährden. Und wir sollten vom Standpunkt buddhistischer sozialer Einsicht aus konstruktive Alternativen aufzeigen, die es uns allen ermöglichen, innerhalb der Grenzen eines lebendigen planetarischen Ökosystems zu gedeihen.
WE: Sie bezeichnen sich als ethnisch jüdischer buddhistischer Mönch. In mancher Hinsicht teilt die jüdische prophetische Tradition wichtige moralische Werte mit buddhistischen Traditionen. Ich denke da zum Beispiel an Jesaja I:17, wo es heißt: "Lernt, Recht zu tun; sucht Gerechtigkeit. Verteidigt die Unterdrückten. Setzt euch für die Waisen ein; setzt euch für die Witwen ein." Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der prophetischen jüdischen Verpflichtung, sich um das Leiden der Schwachen zu kümmern, und der buddhistischen Betonung des Mitgefühls und der Verringerung des Leidens?
BB: Ich bin zwar jüdischer Herkunft, komme aber aus einem säkularen jüdischen Umfeld. Um den familiären Verpflichtungen nachzukommen, besuchte ich die hebräische Schule und hatte eine Bar-Mizwa, aber ich muss mit einiger Verlegenheit zugeben, dass ich die hebräischen Propheten nicht gelesen habe und mein Denken daher nicht direkt von ihnen beeinflusst ist. Seit meiner Studienzeit neige ich zu einer progressiven politischen Ausrichtung – mit ihrer starken Betonung von sozialer, rassischer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit, ihrer Sorge um die Erhaltung einer lebensfähigen Umwelt, ihrer Ablehnung des Militarismus und ihrem Eingehen auf die Bedürfnisse der Armen und Schwächsten. Diese Haltung scheint mir am ehesten mit den ethischen Werten des Buddhismus übereinzustimmen. Die von der buddhistischen Ethik befürworteten Qualitäten wie Liebende Güte, der Wunsch, das Wohlergehen und die Sicherheit anderer zu fördern, und Mitgefühl, der Wunsch, Lebewesen von ihrem Leiden zu befreien, scheinen mir am besten mit einer fortschrittlichen politischen Perspektive übereinzustimmen und ihre praktische Umsetzung in einer entsprechenden Politik zu finden. Die Art von Politik, die ich befürworte, zielt darauf ab, eine gerechte und großzügige soziale Demokratie zu schaffen, die von einer universellen Ethik geleitet wird, welche die Menschen vor Schaden schützt und das Gemeinwohl fördert. Leider wird gegenwärtig die Bewegung hin zu einer solchen sozialen Demokratie durch das Erstarken rechtsextremer politischer Kräfte blockiert und untergraben, und ein Abdriften in Richtung Autokratie, ja sogar in Richtung einer us-amerikanischen Form des Faschismus, zeichnet sich gefährlich am Horizont ab.
WE: Wie es scheint, gibt es an vielen Orten, an denen wir hinschauen können, reichlich Leid. Ein Ort, an dem viele von uns seit dem 7. Oktober hinschauen – und viele haben schon lange vorher hingeschaut – ist Israel und Palästina. Wie beeinflusst Ihr Verständnis der buddhistischen Praxis Ihre Reaktion auf das, was heute im Nahen Osten geschieht?
BB: Meine ethische Grundorientierung beinhaltet Fairness, Gewaltlosigkeit und die friedliche Lösung von Konflikten. Der Buddha selbst hat diese Qualitäten in seinem eigenen Umgang mit der Gesellschaft um ihn herum und in seinen Richtlinien für den Umgang mit Streitigkeiten innerhalb der Sangha vorgelebt. Ich halte diese Prinzipien für entscheidend, um zu einer Lösung in dem Israel-Palästina-Konflikt zu gelangen.
Ein Grundsatz, den der Buddhismus lehrt, lautet: Um ein Problem zu lösen, muss man dessen Ursprünge erforschen und nach den eigentlichen Ursachen suchen. Das ist es, was den israelisch-palästinensischen Konflikt so ungemein schwierig macht. Eine der Wurzeln liegt meines Erachtens in den konkurrierenden Ansprüchen auf Land – auf das Land, das sich vom Jordan bis zum Mittelmeer erstreckt. Für die Juden ist das Land ihre biblische Heimat, das "gelobte Land", das ihnen von Gott gegeben wurde, das Land, in dem ihre Vorfahren Jahrtausende lang lebten, bevor sie von den römischen Eroberern vertrieben wurden. Für die Palästinenser ist das Land der Ort, an dem sie jahrhundertelang in relativem Frieden lebten, bevor die zionistische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts in Europa aufkam und den Prozess der Massenmigration einleitete, der 1948 zur Gründung des Staates Israel führte. Dieses Ereignis, mit dem ein jüdisches Heimatland geschaffen wurde, war für das jüdische Volk etwas Freudvolles, markierte aber auch Nakba, "die Katastrophe", bei der bis zu 15 000 Palästinenser getötet und 750 000 aus ihren angestammten Wohngebieten vertrieben wurden und in das Westjordanland, den Gazastreifen und die angrenzenden Länder ziehen mussten. Jede Seite beansprucht das Land für sich, und daher sind die Versuche, ihre konkurrierenden Ansprüche zu klären, immer wieder gescheitert, zweifellos untergraben durch Israels anhaltende Besetzung der palästinensischen Gebiete, das Apartheidregime in den besetzten Gebieten und die expandierenden Siedlungen im Westjordanland. die bedeuten, dass ein großer Teil des Westjordanlandes praktisch in Israel aufgegangen ist.
Aber das Land selbst ist in gewissem Sinne nur ein Zeichen für das Gefühl einer kollektiven Identität, praktisch einer Stammesidentität. Das jüdische Volk Israels – und seine Unterstützer im Ausland – haben ein kollektives Identitätsgefühl. Und ebenso haben es die Palästinenser. Die beiden Identitäten kollidieren wegen ihrer historischen Vergangenheit, wegen ihrer Ansprüche auf Land und wegen ihrer religiösen Unterschiede. Und um sich auf der Weltbühne durchzusetzen, muss jede Seite die andere entmenschlichen und dämonisieren und eine pathologische Feindseligkeit aufrechterhalten.
Die Ereignisse, die am 7. Oktober begannen, haben die Intensität des Konflikts auf ein völlig neues Niveau gehoben. Die schiere Brutalität der Angriffe der Hamas auf Israelis, einschließlich der Geiselnahme, muss auf das Schärfste verurteilt werden. Die Intensität, Grausamkeit und Unmenschlichkeit der israelischen Reaktion muss jedoch ebenso scharf verurteilt werden. Ein grundlegendes moralisches Prinzip, das mir der Ausbruch der Gewalt in Gaza vor Augen geführt hat, betrifft die Frage: "Wessen Leben zählt wirklich?" Die buddhistische Ethik lehrt uns, dass jedes Menschenleben wichtig ist, dass kein Leben von Natur aus kostbarer oder wertvoller ist als ein anderes. Doch die Art und Weise, wie der Konflikt in den westlichen Medien dargestellt wird, zeigt eine starke Voreingenommenheit zugunsten des israelischen gegenüber dem palästinensischen Leben. Wenn 1.200 Israelis von militanten Hamas-Kämpfern getötet werden, wird dies als schreckliche Tragödie beklagt, und die Presse stellt uns persönliche Profile der Opfer vor. Wenn 36.000 Palästinenser durch israelische Militäroperationen getötet werden, erhalten wir lediglich Statistiken, und die einzelnen Menschenleben werden als reine Kollateralschäden behandelt. Wenn Universitätsstudierende gegen den israelischen Feldzug protestieren, werden sie von führenden Vertretern des Kongresses als "Antisemiten" bezeichnet. Wenn die Studierenden diesen Vorwurf zurückweisen und behaupten, dass sie in Wirklichkeit gegen das Abschlachten der Menschen in Gaza sind, werden sie suspendiert oder von der Universität verwiesen.
Ich selbst habe mich schon sehr früh mit diesem Thema beschäftigt. In den Wochen nach Israels Angriff erwartete ich eine riesige Protestwelle von buddhistischen Führern und Lehrerinnen, und ich war verblüfft, als die Reaktion fast völliges Schweigen war – mit der ehrenwerten Ausnahme von Thanissara Weinberg, Leuten, die mit ihrer Sacred Mountain Sangha verbunden sind, und der Zen-Lehrerin Kritee Kanko. Ende Oktober verfasste ich zusammen mit Alan Senauke einen Brief an Präsident Biden im Namen der amerikanischen Buddhistinnen und Buddhisten, den wir auf der Petitions-Website Change.org veröffentlichten. Innerhalb von zwei Wochen sammelte die Petition etwa 2.000 Unterschriften, und wir schickten sie an Biden, Kamala Harris und einige führende Kongressabgeordnete. Aber zu meiner Verwunderung herrschte unter den bekannten amerikanischen buddhistischen Lehrenden und in den großen buddhistischen Zeitschriften immer noch Schweigen.
Ich sah mehrere prominente Buddhistinnen und Buddhisten auf Facebook Dinge schreiben wie "Wir stehen für Frieden" oder "Innerer Frieden führt zu Weltfrieden" oder "Liebe ist die Antwort", aber ich hatte das Gefühl, dass diese Art von Reaktion nicht nur unzureichend, sondern auch zu simpel war, ein Ausweichen vor unserer moralischen Verantwortung. Um meine eigene ethische Einschätzung der Situation zu formulieren, schrieb ich einen Aufsatz mit dem Titel "Keine Zeit zum Schweigen", in dem ich die amerikanische buddhistische Gemeinschaft aufforderte, sich gegen den Angriff auf Gaza zu erheben. Ich habe versucht, den Aufsatz in den großen amerikanischen buddhistischen Online-Zeitschriften zu veröffentlichen, aber keine wollte ihn annehmen. Thanissara hat dann eine Sammlung von Aufsätzen mit dem Titel "Gaza: Calling for a Dharma Response" zusammengestellt, in die sie meinen Essay aufgenommen hat. Lassen Sie mich die Schlussfolgerung des Aufsatzes zusammenfassen:
Der Hintergrund des Konflikts mag zwar kompliziert sein und bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen, aber die moralische Dimension der Ereignisse, die sich in den letzten vier Monaten [jetzt neun Monaten] in Gaza abgespielt haben, ist sehr deutlich. Es gibt also keine Entschuldigung dafür, sprachlos am Rande zu stehen. Zwar hat die Hamas mit ihrem schrecklichen Angriff auf Israel am 7. Oktober die jüngste Runde der Gewalt ausgelöst, und die Israelis sollten in der Lage sein, innerhalb der Grenzen ihres Landes sicher zu leben, doch kann dies keine Militäroperationen rechtfertigen, bei denen jeden Tag Hunderte von Zivilisten getötet und verwundet werden, oder ein Programm, das die gesamte Bevölkerung einem Massenhunger aussetzt. Sich gegen solche Verletzungen grundlegender Menschenrechte zu wehren bedeutet nicht, die Hamas zu unterstützen. Zu fordern, dass Israel das Völkerrecht einhält, bedeutet nicht, dass wir uns auf die Seite des Terrorismus stellen. Es ist vielmehr ein Akt des Mutes und des Mitgefühls. Nochmals: Einen mutigen Standpunkt einzunehmen, bedeutet nicht, dass wir uns von widersprüchlichen Ansichten mitreißen lassen und es versäumen, eine Haltung unparteiischen Gleichmuts zu bewahren. Nach meinem Verständnis sollte Gleichmut unsere Fähigkeit zu klugen moralischen Urteilen nicht unterdrücken oder unsere Verpflichtung negieren, auf der Grundlage klarer ethischer Überzeugungen zu handeln. Gleichmut kann problemlos mit Mitgefühl koexistieren und mit gewissenhaftem Handeln einhergehen, um moralisches Unrecht zu korrigieren. Die moralische Verpflichtung wird in diesem Fall besonders zwingend, wenn es die Regierung unseres eigenen Landes ist, die Israel bei einer Kampagne unterstützt, die nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs als Völkermord angesehen werden kann.
Obwohl ich die jüdische Religion nicht praktiziere, fühle ich mich immer noch mit den säkularen jüdischen Werten verbunden, die ich von meiner Familie gelernt habe – Güte, Mitgefühl und Sorge um das Wohl anderer – und diese, verstärkt durch meine buddhistischen Werte, machen die Krise in Palästina für mich besonders herzzerreißend. Die Tatsache, dass die USA Israel weiterhin militärisch und diplomatisch unterstützt, selbst wenn dies gegen unser eigenes Bekenntnis zum Völkerrecht verstößt, macht unser Land mitschuldig an den schweren Kriegsverbrechen, die Israel sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland begangen hat. Unsere unerschütterliche Unterstützung der israelischen Militärkampagne verhöhnt auch unseren Anspruch, der wichtigste Verteidiger der auf Regeln basierenden globalen Ordnung zu sein. Durch unsere Widerspenstigkeit sind wir, zusammen mit Israel und einigen kleinen Inselnationen, bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Gremien nahezu isoliert.
Als Reaktion auf die kritische Situation in Gaza muss die internationale Gemeinschaft zwei wesentliche Schritte unternehmen. Erstens müssen wir sowohl Israel als auch die Hamas davon überzeugen, einem vollständigen Waffenstillstand zuzustimmen, der ein sofortiges Ende der Feindseligkeiten bedeutet und die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln als Teil der Vereinbarung vorsieht. Und zweitens müssen wir Israel dazu bringen, seine Landübergänge zu öffnen und humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zu ermöglichen; Lebensmittel, sauberes Wasser, medizinische Versorgung und Treibstoff werden dringend benötigt. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind dem Hungertod nahe, haben kein Trinkwasser und sind von tödlichen Krankheiten bedroht, weil es keine Medikamente gibt. Als Buddhistinnen und Buddhisten mit Gewissen müssen wir Druck auf unsere Politiker, unsere Vertreterinnen ausüben, damit sie sich für eine faire und gerechte Beilegung des Konflikts zwischen Israel und Palästina einsetzen. Auch wenn unsere Briefe, Anrufe und E-Mails aussichtslos erscheinen mögen, sollten wir die Möglichkeiten kollektiven Handelns nicht außer Acht lassen.
Wir können unsere kontemplativen Praktiken auch als Mittel zur Förderung des Friedens einsetzen. Zum Beispiel können wir über Mitgefühl meditieren und diese Verdienste der Sache des Friedens widmen. Wir können uns an die Devas und himmlischen Bodhisattvas wenden und sie um ihre Fürsprache bitten. Diese Handlungen sind nicht nur imaginäre Übungen. Ich glaube, dass es jenseits der sichtbaren Ebene eine subtile psychische Ebene gibt, die von unseren Gedanken, Hoffnungen und Sehnsüchten durchdrungen ist. Wenn diese eine kritische Schwelle erreichen, können sie Veränderungen im sichtbaren Bereich auslösen, vielleicht einen subtilen Einfluss auf die Denkprozesse der führenden Politikerinnen und Politiker der Welt ausüben oder sogar materielle Veränderungen bewirken, die den Weg für große Umwälzungen im sozialen Bereich ebnen. Erinnern Sie sich daran, wie in den 1980er Jahren unerwartete Dinge geschahen: der Zusammenbruch der Sowjetunion, das Ende des Apartheidregimes in Südafrika, die Bejahung der Rechte von Schwulen und Lesben und andere große Veränderungen. Wir können nicht ausschließen, dass es heute zu ähnlichen Veränderungen kommen könnte. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat auf beiden Seiten tiefe psychische Narben hinterlassen, Traumata, deren Heilung lange dauern wird, vielleicht sogar ein paar Generationen; aber wenn Hass und Gewalt ein Ende haben sollen, müssen beide Seiten die Waffen niederlegen, miteinander reden und die Menschlichkeit der anderen Seite anerkennen: dass wir im Grunde alle gesund und glücklich sein und sicher vor Schaden und Leid leben wollen.
WE: Der Slogan von Buddhist Global Relief lautet "Mitgefühl in Aktion". Haben Sie irgendwelche Empfehlungen, wie buddhistische Praktizierende Mitgefühl als Teil ihrer Praxis in die Tat umsetzen können?
BB: Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, Mitgefühl in die Tat umzusetzen, und jede und jeder von uns muss dafür einen eigenen Weg finden. Eine von mir oft vorgeschlagene Methode besteht darin, dass Sie sich zunächst überlegen, welche Art von Gesellschaft und in welcher Art von Welt Sie leben wollen. Ich gehe davon aus, dass fast jedem, der sich zur buddhistischen Ethik bekennt, eine Welt vorschwebt, in der alle Menschen über die grundlegenden materiellen Voraussetzungen für ihr Wohlergehen verfügen. Wir wünschen uns wohl alle eine Welt des Friedens, in der die natürliche Umwelt geschützt wird und in der eklatante Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand, Macht und Privilegien beseitigt sind. Wir wünschen uns eine Welt, in der die Menschen in relativer Harmonie zusammenleben und ihre Probleme durch friedliche Zusammenarbeit lösen können, in der sie frei sind, ihre persönlichen Ziele zu verfolgen, solange dies nicht zum Schaden anderer führt.
Nachdem Sie für sich Ihre Vision einer idealen Welt formuliert haben – eine Utopie, die natürlich nie vollkommen verwirklicht werden kann –, sollten Sie sich die wichtigsten Probleme vornehmen, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist; Probleme, welche dazu beitragen, die Verwirklichung dieser idealen Welt zu verhindern. Sie könnten sich mit Fragen der Rassengerechtigkeit, der Gleichstellung der Geschlechter, der Arbeitnehmerrechte, des Umweltschutzes, der Rechte von Migranten, der Tierrechte und so weiter befassen, um nur einige zu nennen. Sie müssen kein Experte, keine Expertin auf diesen Gebieten werden, sondern sich nur einen Überblick über die kritischen Herausforderungen verschaffen, mit denen wir heute konfrontiert sind, insbesondere über diejenigen, zu denen wir als Bürger, Bürgerin positives beitragen können. Dann gehen Sie in stiller Kontemplation all diese Themen durch, um herauszufinden, wo Ihr Herz aufbricht. Sie sollten genau auf die Regungen Ihres Herzens hören; dort werden Sie Ihren Ruf in die Welt der "heiligen Aktion" hören. Natürlich sollten Sie einen Bereich wählen, in dem Sie auch tatsächlich einen Beitrag leisten können.
Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Sie keine außergewöhnlichen Fähigkeiten oder Talente haben. Ein Aspekt unserer heutigen Arbeit besteht darin, unsere persönlichen Talente mit anderen in einem gemeinsamen Vorhaben zu vereinen, das auf dem Mitgefühl für die Menschen überall auf der Welt und der Sorge um einen stark bedrohten Planeten beruhen sollte. Wenn wir gemeinsam handeln, können wir große Dinge erreichen. Was wir am meisten brauchen, ist ein Vertrauen, dass die tief verborgenen spirituellen Kräfte des Universums uns irgendwie zu Hilfe kommen und sich Wege und Möglichkeiten direkt vor unseren Füßen eröffnen werden, wenn wir im Geiste der Liebe und des Mitgefühls die Initiative zum Handeln ergreifen. Was wir brauchen, ist eine tiefe Quelle des Mitgefühls, die sich aus Kontemplation, Meditation und der festen Absicht speist, unsere Bemühungen in den Dienst anderer zu stellen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich, sobald wir diese Faktoren zusammenbringen, der Rest in einer Weise entfaltet, die wir nicht vorhersehen können.
Foto von Aamir Mohd Khan von Pixabay
Was bedeutet es für uns als Dharma-Praktizierende, hier und heute in dieser Welt Mitgefühl zu praktizieren? Reicht es aus, jedem Menschen mit freundlichen Gefühlen zu begegnen und gelegentlich unsere Hilfe anzubieten? Oder fordern die ethischen Gebote des Dharma uns auf, mehr zu tun, aktiv auf das bedrängende Leiden so vieler Menschen auf diesem Planeten zu reagieren? Welche Prioritäten sollten wir uns im Leben setzen – als Individuen, aber auch als Bürgerinnen und Bürger?
Diese Fragen wurden für mich letzte Woche durch zwei Nachrichten, die meine Aufmerksamkeit erregten, besonders aktuell. Sie erinnerten mich eindringlich daran, dass wir uns mit der schrecklichen Lage auseinandersetzen müssen, in der sich viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt befinden – die oft genug auch mit der Politik unseres eigenen Landes und unserer eigenen tief verwurzelten Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage der Menschen in fernen Ländern zusammenhängt.
Ein Beitrag in der 'PBS Newshour' befasste sich mit der immer mehr eskalierenden Hungersnot in Afghanistan. Afghanistan ist seit langem eines der ärmsten Länder der Welt, ein Land mit einer dahinsiechenden Wirtschaft, dessen Bevölkerung jahrzehntelang gewaltsame Konflikte durch rivalisierende militante Gruppen ertragen musste. Vor zwei Jahren kamen die Taliban erneut an die Macht und errichteten einen islamistisch-theokratischen Staat, der die rückschrittlichste Auslegung der Scharia vertritt. Die von den Taliban verfolgte Politik hat für Frauen besonders katastrophale Folgen. Frauen müssen ihren Körper von Kopf bis Fuß vollständig bedecken, es ist ihnen verboten, außerhalb des Hauses zu arbeiten, und Mädchen dürfen keine über die Grundschule hinausgehende Ausbildung absolvieren. Als Reaktion darauf hat die internationale Gemeinschaft harte Wirtschaftssanktionen gegen Afghanistan verhängt und das Land in die diplomatische Isolation getrieben.
Eine Folge dieser politischen Strategie ist, dass das afghanische Volk eine quälende Hungersnot erleidet. Fünfzehn Millionen Afghanen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - kämpfen darum, jeden Tag genug zu essen zu bekommen. Dreizehn Millionen waren vollkommen abhängig vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Doch erst kürzlich musste das WFP aufgrund eines Finanzierungsdefizits sein Engagement so kürzen, dass nur noch drei Millionen Menschen Nahrung erhalten. Damit haben zehn Millionen Menschen keinen gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln mehr, und das ausgerechnet jetzt, wo der Sommer zu Ende geht und die Winterstürme beginnen.
Hsiao-Wei Lee, der WFP-Länderdirektor, sagt, die Organisation stehe nun vor der schwierigen Entscheidung, „zwischen Familien, die hungern, und solchen, die verhungern, zu wählen“. Viele Familien können nur einmal am Tag etwas essen. Das Leid afghanischer Eltern wird durch die Aussage einer Frau in einem Bericht von ‚Save The Children‘ treffend wiedergegeben: „Manchmal kochen wir nur eine Mahlzeit pro Woche - eine Suppe ohne Fleisch. Dazwischen essen wir ein bis zwei Mal am Tag Brot. Es macht mich traurig zu wissen, dass meine Kinder unterernährt sind, weil wir nichts zu essen haben, und ich weiß nicht, wie ich es schaffen könnte, dass es ihnen besser geht.“
Um Essen für die Familie zu bekommen, schicken die Eltern ihre Kinder zum Betteln auf die Straße. Auch die Mütter schleichen sich nachts zum Betteln hinaus. Viele bieten ihre Töchter schon im Alter von sieben oder acht Jahren zur Heirat an. Solche schmerzhaften Opfer tragen dazu bei, die Zahl derer, die ernährt werden müssen, zu verringern, und bringen manchmal auch Geld ein, das für den Kauf von Lebensmitteln verwendet werden kann.
Der andere Bericht, auf den ich letzte Woche aufmerksam wurde, war ein Videobeitrag auf ‚Democracy Now‘! über die Lage in der Demokratischen Republik Kongo. Die Moderatoren interviewten Jan Egeland, den Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats, der kürzlich von einem Besuch im Kongo zurückgekehrt war. Die Demokratische Republik Kongo steht vor der, wie Egeland es nennt, „weltweit größten Hungernot“, bei der 25 Millionen Menschen am Rande des Verhungerns stehen. Egeland bezeichnete die Krise im Kongo als „unvorstellbar“ und sagte: „In keinem anderen Land auf der Welt gibt es mehr als 25 Millionen Menschen, die unter Gewalt, Hunger, Krankheit und Missachtung leiden. Und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine so geringe internationale Reaktion zur Hillfe, Unterstützung und Beendigung all des Leids.“
Die Wurzel des Problems, erklärt Egeland, ist die Gewalt, die das Land vor allem im Norden und Osten erfasst hat. Allein im Osten kämpfen 150 bewaffnete Gruppen um Land, und die Zivilbevölkerung mittendrin ist gezwungen, in kleinen Lagern Zuflucht zu suchen, wo die Menschen in bitterem Elend zusammengepfercht sind. Die humanitären Bemühungen zur Bewältigung der Krise sind stark unterfinanziert, nur ein Drittel der erforderlichen Mittel stehen zur Verfügung.
Egeland plädiert mit Nachdruck für mehr Hilfe: „Die Missachtung des Leids in der DR Kongo ist Teil einer klaffenden globalen Lücke zwischen den zugesagten Hilfsgeldern und dem Bedarf vor Ort. Überall auf der Welt nehmen die Finanzierungsdefizite ein immer größeres Ausmaß an, und Millionen von Menschen werden die grundlegenden Mittel zum Leben, insbesondere Nahrung, vorenthalten. Die Menschen im Osten der DR Kongo brauchen dringend die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in finanzieller, politischer und diplomatischer Hinsicht, um die Lücke zu schließen.“
Solche dramatischen Hungersnöte gibt es keineswegs nur in Afghanistan und der DR Kongo. Sie sind nur zwei Brennpunkte in einem weiten Bogen des Hungers, der sich von der Mongolei und Myanmar im Osten über Südasien, das Horn von Afrika, die Sahelzone und den Atlantik bis nach Haiti und Mittelamerika ein erstreckt. Das WFP stellt fest, dass Konflikte, Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen und steigende Kosten für Düngemittel in Kombination zu einer Welternährungskrise von noch nie dagewesenem Ausmaß geführt haben, so dass heute fast 800 Millionen Menschen an chronischem Hunger leiden. Das WFP stellt uns mit deutlichen Worten vor die Wahl: „Handeln Sie jetzt, um Leben zu retten und in Lösungen zu investieren, die Ernährungssicherheit, Stabilität und Frieden für alle gewährleisten, oder sehen Sie zu, wie Menschen auf der ganzen Welt mit zunehmendem Hunger zu kämpfen haben.“
Um diese Krise abzuwenden, bedarf es einer konzertierten, entschlossenen und unablässigen Anstrengung seitens der internationalen Gemeinschaft, wobei die größte Verantwortung bei den wohlhabenden Nationen liegt, die ihren Anteil an der humanitären Hilfe unbedingt erhöhen müssen. Über die UNO müssen diese Länder auch zusammenarbeiten, um die Konflikte zu lösen, die die ärmeren Länder auseinanderreißen. Dem WFP zufolge sind Konflikte die Hauptursache für den Hunger und die Verarmung der Bevölkerung. Doch die Beziehungen zwischen den Weltmächten selbst sind durch zunehmende Spannungen belastet, so dass diese Bedingungen kaum erfüllbar scheinen.
Die reichen Länder beklagen sich oft darüber, dass sie nicht genügend Mittel haben, die sie für die internationalen Organisationen zur Bekämpfung des Hungers bereitstellen könnten, aber solche Klagen werden durch Statistiken widerlegt. Das Welternährungsprogramm (WFP) gibt an, dass es 25 Milliarden Dollar benötigt, um seinen Finanzbedarf für 2023 zu decken. Das mag viel Geld sein, aber es ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was die Großmächte für ihre Streitkräfte ausgeben. Im Jahr 2023 stellen die USA 877 Milliarden Dollar für ihr Militär bereit, China 292 Milliarden Dollar. Die gesamten weltweiten Militärausgaben belaufen sich derzeit auf über 2,24 Billionen Dollar. Könnten die großen Militärmächte nicht einmal 10 Prozent ihrer Militärausgaben einsparen und diese Mittel für Nahrungsmittelhilfe und Friedensinitiativen verwenden? Es ist zutiefst beschämend, dass viel mehr Geld für die Zerstörung von Leben ausgegeben wird als für die Erhaltung und den Schutz von Leben.
Aus buddhistischer Sicht offenbaren diese Verzerrungen unserer globalen Prioritäten den Einfluss, den die Geistesgifte – Gier, Hass, Verblendung und ihre Ableger – auf das menschliche Herz hat. Diese Gifte wirken nicht nur durch unser individuelles Bewusstsein, sondern auch durch die Systeme, Strukturen und Institutionen, die unserem gemeinsamen Leben zugrunde liegen. Was wir brauchen, um die schrecklichen Pandemien von Hunger, Armut und Gewalt – wie wir sie beispielsweise gerade in Afghanistan und im Kongo erleben – zu bekämpfen, ist ein unerschütterliches Bekenntnis zu den ethischen Geboten des Mitgefühls. Für Buddhistinnen und Buddhisten muss Mitgefühl mehr sein als nur ein schönes Gefühl oder eine erbauliche rhetorische Bekräftigung des Gelübdes, alle fühlenden Wesen zu retten. Mitgefühl muss mit einem Gefühl von Verantwortung und dem festen Versprechen verbunden sein, andere vom Leiden zu befreien. Von Mitgefühl können wir erst dann sprechen, wenn wir es in unserem Handeln zum Ausdruck bringen.
Das Bindeglied zwischen Mitgefühl als innerem Zustand und der Verpflichtung zu verantwortungsbewusstem Handeln ist Solidarität. Solidarität ist die Fähigkeit, sich mit anderen zu identifizieren und mit ihrem Schmerz und Leiden mitzufühlen. Solidarität beruht auf dem Verständnis, oder besser gesagt, auf der intuitiven Einsicht, dass andere im Wesentlichen wie wir selbst sind, dass die Unterschiede zwischen uns nur oberflächlich sind und dass wir im Grunde alle nach dem Gleichen streben: nach Glück, Sicherheit und Erfüllung. Wenn das Gefühl der Solidarität das Herz berührt, drückt sich das Mitgefühl in wirksamen, verändernden und befreienden Maßnahmen aus.
Die Lehren des Buddha geben uns die Werte und ethischen Ideale an die Hand, die wir brauchen, um die großen Krisen der Menschheit anzugehen, um die weltweiten Hungersnöte zu bekämpfen. Das ist
der Grund unserer Arbeit bei Buddhist Global Relief und Mitgefühl in Aktion. Der Dharma bietet die moralischen Werte, wie sie in den vier sogenannten „göttlichen Verweilungen“ zum Ausdruck
kommen: grenzenlose liebende Güte, Mitgefühl, Empathie und Unparteilichkeit. Der Dharma hebt die erhabene Tugend der Großzügigkeit (dāna-pāramitā) hervor und fordert uns auf, unser Leben aus
Mitgefühl für die Welt (lokānukampā) zu leben. Unsere Aufgabe ist es, diese erhabenen Werte und Ideale als Ansporn zum Handeln zu nutzen. Dies kann durch Organisationen wie die BGR, die ‚Tzuchi
Foundation‘, das ‚Clear View Project‘, die ‚Buddhist Peace Fellowship‘, MiA und andere, die sich für soziale Veränderungen einsetzen, geschehen. Aber wir sollten auch unsere Pflichten als
Bürgerinnen und Bürger erfüllen. Unsere individuelle Stimme zählt, und wir sollten sie nutzen, um unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter, die Regierungen und internationalen Gremien
aufzufordern, der Abschaffung von Hunger und Armut deutliche Priorität einzuräumen.
Akuter Hunger ist etwas ganz anderes als das Knurren in unserem Magen, wenn wir ein paar Mahlzeiten auslassen, oder das Verlangen, das unseren Geist überflutet, wenn unser Geschmackssinn sich nach neuen Geschmacksrichtungen sehnt. Akuter Hunger setzt unseren gesamten Organismus unter Strom und verdrängt alles andere zugunsten unseres grundlegenden Überlebenstriebes. Wenn wir von extremem Hunger gepackt werden, können wir an nichts anderes denken als an Essen. Dann haben wir kein Interesse an etwas anderem als Essen und träumen von nichts anderem als einer anständigen Mahlzeit.
Ich selbst erlebte diese Art von Hunger während meiner ersten beiden Jahre als Mönch in Sri Lanka (1973-75), als das Land mit einer neuen Wirtschaftspolitik experimentierte, die zu starken Kürzungen des Nahrungsangebots in dem ländlichen Kloster, in dem ich lebte, führte. Nach einigen Monaten unzureichender Ernährung spürte ich, wie die Zellen und Gewebe meines Körpers nach den Nährstoffen verlangten, die sie brauchten, um ihre lebenserhaltenden Funktionen zu erfüllen. Manchmal warf ich einen Blick auf meine Gummisandalen in der Ecke meiner Hütte und fragte mich, ob sie essbar waren.
Der Buddha muss die Tortur des anhaltenden Hungers sehr gut verstanden haben, als er sagte, dass Hunger die schlimmste Krankheit ist (Dhammapada 203). Unterernährung wird mit Bluthochdruck, Herzkrankheiten und Diabetes in Verbindung gebracht; sie macht die Menschen auch anfälliger für Virusinfektionen und kognitive Unzulänglichkeiten. Akuter Hunger ist jedoch nicht nur ein Zustand, der den Einzelnen als isolierte Einheit befällt. Unter dem Einfluss größerer Kräfte kann der Hunger eine kollektive Dimension annehmen und ganze Regionen und sogar Länder erfassen. Die Folgen des kollektiven Hungers können gravierend sein. Dazu gehören wirtschaftlicher Niedergang, Epidemien, kürzere Lebenserwartung und verschärfte soziale Spannungen. Kinder, die von Hunger bedroht sind, haben eher einen schlechten Gesundheitszustand und Schwierigkeiten in der Schule, und wenn diese Kinder erwachsen werden, können ihre gesundheitlichen Probleme zu einer Belastung für ihre Gesellschaften werden.
Konflikte und Hunger stehen in einem kausalen Zusammenhang, wobei die Ursachen in beide Richtungen verlaufen. Armut und Hunger können zu Konflikten führen, aber häufiger ist es so, dass Konflikte den Hunger verstärken. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) sind Konflikte die Hauptursache für den Hunger in der Welt. Acht der zehn schwersten Ernährungskrisen der Welt sind auf Kriege und Konflikte zurückzuführen, die 158 Millionen Menschen in eine akute Hungersnot getrieben haben. Wenn akuter Hunger in Kriegszeiten auftritt, kann das damit verbundene Leid um ein Vielfaches größer sein.
Zwar sind Konflikte und Hunger eng miteinander verknüpft, doch können wir zwischen Fällen unterscheiden, in denen der Hunger eine zufällige Folge des Konflikts ist, und solchen, in denen der Hunger taktisch als Mittel zur Unterdrückung einer gegnerischen Bevölkerung eingesetzt wird, um sie zur Unterwerfung zu zwingen. Die derzeitige Krise im Sudan ist ein Beispiel dafür, dass der Hunger eine zufällige Folge eines Konflikts ist. Der bewaffnete Konflikt zwischen zwei rivalisierenden militärischen Gruppierungen hat das Land überrollt und fast 18 Millionen Menschen in eine akute Hungersnot getrieben. Eddie Rowe, der WFP-Länderdirektor im Sudan, bemerkte, dass "immer mehr Menschen darum kämpfen, eine Grundmahlzeit am Tag zu bekommen, und wenn sich die Dinge nicht ändern, besteht die reale Gefahr, dass sie nicht einmal dazu in der Lage sein werden".
Im Gegensatz dazu kann eine Seite in einem Konflikt versuchen, ihre Gegner zur Aufgabe zu zwingen , indem sie sie absichtlich aushungert. Derzeit wird der Hunger in den Konflikten in der Ukraine und im Gazastreifen auf diese Weise als Waffe eingesetzt. Russlands taktischer Einsatz des Hungers in seinem Krieg gegen die Ukraine bestand darin, der Zivilbevölkerung absichtlich den Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Treibstoff zu verwehren; Angriffe auf Einrichtungen, die für die Nahrungsmittelproduktion unerlässlich sind, einschließlich Wasserversorgung und Transportfahrzeuge; und die "Bewaffnung der Landwirtschaft", als russische Streitkräfte im Sommer 2023 über 270.000 Tonnen Nahrungsmittel zerstörten und Landminen einsetzten, um landwirtschaftliche Aktivitäten zu verhindern.
Der taktische Einsatz des Hungers zeigt sich heute am deutlichsten in Israels Kampagne gegen den Gazastreifen. In den Tagen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober kündigten israelische Beamte an, alle Lieferungen von Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff in den Gazastreifen zu stoppen, und sie haben diese Drohung rigoros wahr gemacht. Auf internationalen Druck hin hat Israel zwar einige Hilfslieferungen in das Gebiet zugelassen, doch die bereitgestellten Mengen sind nur ein Bruchteil dessen, was benötigt wird. Die israelischen Beamten sind sich der Folgen dieser Politik sicherlich nicht unbewusst. Es scheint ihnen schlichtweg egal zu sein, wie sich dies auf die Menschen im Gazastreifen auswirkt.
Die Nahrungsmittelblockade hat die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Kinder, an den Rand des Verhungerns gebracht. In einem Beitrag für den Guardian Ende Januar schrieb Alex de Waal, der Autor von Mass Starvation: The History and Future of Famine (Geschichte und Zukunft der Hungersnot), dass "Gaza eine Massenverhungerung erlebt, wie es sie in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben hat". Er sagte voraus, dass Tausende von palästinensischen Kindern im Gazastreifen sterben werden, selbst wenn die Barrieren für Hilfslieferungen sofort aufgehoben werden. Einige Wochen später warnte der stellvertretende UNICEF-Exekutivdirektor für humanitäre Maßnahmen und Versorgungsoperationen, Ted Chaiban: "Wenn der Konflikt jetzt nicht beendet wird, wird sich die Ernährungslage der Kinder weiter verschlechtern, was zu vermeidbaren Todesfällen oder Gesundheitsproblemen führen wird, die die Kinder in Gaza für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen und möglicherweise generationsübergreifende Folgen haben werden.“
Seit diesen Warnungen hat die Blockade nicht nachgelassen, und die Vorhersagen werden wahr. Es gibt bereits Berichte, wonach mindestens 25 Kinder an Dehydrierung und Unterernährung gestorben sind, und es wird befürchtet, dass dies nur der Anfang einer eskalierenden Zahl von Todesfällen ist. Und um Salz in die Wunden zu streuen, haben israelische Streitkräfte in letzter Zeit, wenn Hilfstransporte zur Verteilung von Nahrungsmitteln eintrafen, auf Menschen geschossen, die an den vorgesehenen Verteilungspunkten auf Hilfe warteten. Berichten zufolge sind auf diese Weise bereits mehrere hundert Menschen getötet worden. Die einzige Möglichkeit, diese Katastrophe abzuwenden oder zumindest abzumildern, besteht darin, den Krieg sofort zu beenden und die Blockade der humanitären Hilfe durch Israel aufzuheben.
Gegenwärtig werden rechtliche Schritte eingeleitet, um ein Ende der Blockade zu erzwingen. Oxfam und Human Rights Watch haben Israel vorgeworfen, den Hunger als "Kriegswaffe" einzusetzen, und Südafrika hat in seiner Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) das Aushungern der Bevölkerung des Gazastreifens als völkermörderischen Akt bezeichnet (siehe Abschnitt 50 in seiner Klageschrift, S. 35). Vor kurzem hat Südafrika den IGH ersucht, zusätzliche Sofortmaßnahmen gegen Israel anzuordnen und dabei auf die von Israel im Gazastreifen betriebene Aushungerungspolitik hingewiesen.
Abgesehen von den rechtlichen Aspekten muss die Bewaffnung des Hungers aus ethischer Sicht als eine tiefgreifende moralische Zerrüttung betrachtet werden. Dieser taktische Einsatz des Hungers verleiht der Aussage des Buddha, dass "Hunger die schlimmste Krankheit ist", noch mehr Nachdruck. Inmitten des Chaos und der Verwüstung des Krieges müssen Zivilisten oft mit Herausforderungen wie dem Verlust ihrer Häuser, Zwangsumsiedlungen, fehlendem Zugang zu medizinischer Versorgung, persönlichen Verletzungen und dem Tod oder der Verletzung von Angehörigen fertig werden. Ihr Elend noch zu verschlimmern, indem man ihnen den Zugang zu Nahrungsmitteln abschneidet, ist sowohl ein Verstoß gegen ihre Menschenwürde als auch eine Bedrohung ihres Überlebens.
Krieg ist seit jeher ein Zustand des Massenwahnsinns, der uns für unsere tiefen menschlichen Beziehungen blind macht. Er ist der ultimative Ausdruck von Gier, Hass und Verblendung, die aus allen Zwängen heraus entfesselt werden. Der Wahnsinn des Krieges hat uns seit den Anfängen der menschlichen Präsenz auf diesem Planeten heimgesucht, aber der Einsatz von Hunger als Waffe im Krieg verstärkt diesen Wahnsinn mit dem Gift der Grausamkeit. Wenn wir auch nur für einen Moment aus diesem Wahnsinn erwachen würden, würden wir sofort erkennen, dass wir aufhören müssen, unsere Differenzen mit Hilfe von Kriegen beizulegen. Der erste Schritt zur Beendigung der gegenwärtigen Kriege, wo auch immer sie stattfinden mögen, ist die Annahme eines sofortigen Waffenstillstands. Die Spannungen und Differenzen, die uns trennen, können durch Verhandlungen in gegenseitigem Respekt beigelegt werden. Sie werden niemals durch die offene Gewalt von Bomben oder die subtile Gewalt von Blockaden beigelegt werden können.
Eine grundlegende Wahrheit, die der Buddha gelehrt hat, besagt, dass "alle Wesen durch Nahrung erhalten werden". So einfach und offensichtlich diese Maxime auf den ersten Blick erscheinen mag, ihre Bedeutung sollte nicht unterschätzt werden, denn sie ist der Schlüssel sowohl zu tiefer Einsicht als auch zu tiefem Mitgefühl. Zu erkennen, dass wir alle in gleicher Weise auf Nahrung angewiesen sind, bedeutet zu verstehen, dass unser Leben in einem komplexen Netz der Gegenseitigkeit verwoben ist, das niemandem Raum lässt, andere zu unterdrücken oder zu schädigen. Wir sind alle zerbrechliche Geschöpfe, alle verletzliche Wesen, deren Leben Tag für Tag von der Nahrung als Rohstoff für unser Überleben abhängt.
Die Erkenntnis, dass andere Menschen, wie wir selbst, auf Nahrung angewiesen sind, sollte in uns das tiefe Mitgefühl wecken, das unsere Herzen vor dem Leid derer erzittern lässt, die Hunger und Unterernährung ertragen müssen. Diese Überlegung sollte in uns auch eine majestätische Großzügigkeit des Geistes wecken - die großzügige Hand, die sich zum Schutz der Bedürftigen ausstreckt und dafür sorgt, dass sie die Mittel haben, sich zu entfalten. Auch wenn dies vielleicht nicht den aktuellen Realitäten entspricht, sollten die globalen Beziehungen durch ein gemeinsames Engagement für eine moralische Vision der menschlichen Angelegenheiten geregelt werden und nicht durch das Streben nach Macht und Vorherrschaft. Letztlich nützt das Streben nach Macht und Vorherrschaft niemandem. Wir haben die Fähigkeit, alle Menschen auf diesem Planeten zu ernähren, und die Erfüllung dieser Fähigkeit sollte unser gemeinsames Ziel sein.
Als Reaktion auf zwei der in diesem Essay erwähnten Krisen hat Buddhist Global Relief vor kurzem Nothilfe für die Hungerhilfe in der Ukraine (50.000 $ aufgeteilt zwischen Action Against Hunger, Save the Children und World Central Kitchen) und im Gazastreifen (50.000 $ aufgeteilt zwischen dem World Food Program-USA und UNRWA-USA) geleistet.Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wollen wir in Zukunft weitere Hilfe leisten. Siehe den Artikel von David Braughton in „Helping Hands“.
Ven. Bhikkhu Bodhi
Die in diesem Aufsatz geäußerten Ansichten sind die des Autors und geben nicht unbedingt die offizielle Position der BGR oder die von MiA wieder.
Übersetzung: RH. Originaltext in Englisch hier.
Vor vielen Jahren, als ich neu ordinierter Mönch in Sri Lanka war, beschloss ich, meine tägliche Praxis der Atemachtsamkeit mit Metta, der meditativen Kultivierung der liebenden Güte, zu „gießen“. Zur Orientierung wandte ich mich den Anweisungen im Visuddhimagga zu , der klassischen Theravada-Abhandlung über die buddhistische Lehre und Meditation. Der Visuddhimagga erklärt, dass in der Anfangsphase liebende Güte gegenüber Menschen in vier Gruppen entwickelt werden muss: sich selbst, einem liebe Menschen, neutrale Menschen und Feinde. Den in der Abhandlung niedergelegten Richtlinien folgend, begann ich damit, mich selbst als den ersten Empfänger von Metta zu betrachten, indem ich die Gedanken auf mich selbst lenke: „Möge ich gesund, glücklich, friedlich und sicher sein!“ Als nächstes wandte ich mich mehreren Menschen in der zweiten Kategorie zu, „denen, die mir lieb sind“, und stellte fest, dass nach ein paar Anfällen und Anfängen liebevolle Güte reibungslos zu den Menschen in dieser Gruppe floss. Als nächstes kam die dritte Kategorie, die „Neutralen“, bloße Bekannte, denen man weder freundlich noch feindselig gegenübersteht. Als ich versuchte, Menschen in dieser Kategorie liebevolle Güte zuzuwenden, versiegte der Fluss der Empathie und mein Geist wurde trocken und lustlos.
Ich beharrte auf meinen Bemühungen, stieß aber immer wieder gegen eine Wand, die nicht nachgeben wollte. Ich kehrte zu den Personen der Kategorie "lieb" zurück, baute eine Welle wohlwollender Gefühle auf und wandte mich dann den "neutralen Personen" zu, aber dort blieb ich stecken. Anstatt auf das offene Meer der Güte hinauszufahren, versank ich in den Sanddünen der Dumpfheit und Apathie.
Eines Tages fand jedoch eine Verschiebung statt, die meine Praxis veränderte. Die Verschiebung erfolgte spontan und unerklärlich, ohne dass ich mich bewusst darum bemüht hätte. Bis zu diesem Punkt hatte ich mir die Menschen, denen gegenüber ich versucht hatte, liebende Güte zu entwickeln, mental vorgestellt und sie vor meinem geistigen Auge als Objekte meiner Meditation betrachtet. Das Schlüsselereignis, das den Wandel auslöste, war die Erkenntnis, dass diese Menschen überhaupt keine „Objekte“, sondern Subjekte waren– nicht reduzierbare Erfahrungszentren. Es dämmerte mir, dass diese Menschen nicht nur „da draußen“ im objektiven Raum meines eigenen Bewusstseins existierten, sondern dass jeder der Kern einer für ihn einzigartigen Erfahrungswelt war. Jeder war ein unersetzliches Subjekt, Personen mit ihren eigenen Geschichten, ihrer eigenen Innerlichkeit, ihren eigenen Hoffnungen und Ängsten, ihrem eigenen komplexen Netz von Beziehungen, Bestrebungen und Sorgen.
Mit dieser Verschiebung traf mich die Erkenntnis, dass jede dieser Personen als Subjekte der Erfahrung von den primären Zielen angetrieben wurde, die alle Subjekte der Erfahrung motivieren: Leiden zu vermeiden und Glück zu erlangen, Schaden zu entgehen und in Frieden zu leben, ein Leben zu führen Leben mit Sinn, Zweck und Erfüllung. Sofort stieg eine tiefe Welle der Empathie in meinem Herzen auf, verwurzelt in der Anerkennung unserer gemeinsamen Menschlichkeit, unseres gemeinsamen Empfindens. Das bedeutet nicht, dass meine Kultivierung der liebenden Güte gegenüber den neutralen und feindseligen Menschen sofort mühelos und spontan wurde. Ich musste mich immer noch entschlossen bemühen, die Empathie, die aufkam, auf die Aufgabe anzuwenden, liebevolle Güte gegenüber den Menschen zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, die ich in diese Kategorien einordnete. Aber ich hatte den Schlüssel zum Aufschließen der Tür gefunden.
Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, dass diese Entdeckung weitreichende Auswirkungen hatte. Durch die Erkenntnis der unbestreitbaren subjektiven Realität der Menschen, die ich in meiner Meditation mental aufsteigen ließ, kam ich zu der Erkenntnis, dass jede Person ist im Grunde ein Subjekt der Erfahrung. Diese Wahrheit kann sogar auf alle fühlenden Wesen ausgedehnt werden, um zu verstehen, dass Vögel und Fledermäuse, Moskitos und Spinnen ebenfalls Bewusstseinszentren sind, die aktiv an dem Projekt beteiligt sind, sich einen Platz in der Welt zu schaffen. Descartes und seine materialistischen Nachfolger machten einen verhängnisvollen Fehler, indem sie Tiere für bloße belebte Maschinen hielten. Tiere jeder Couleur sind auch Subjekte der Erfahrung, jedes ein komplexer Knotenpunkt von Gefühlen, Plänen und Absichten, ein Bündel von Ängsten und Wünschen – eine Wahrheit, die wir in unseren Knochen kennen. Aber mir ging es an dieser Stelle vor allem darum, mit welcher Art von Wesen ich mich am ehesten identifizieren konnte, nämlich mit meinen Mitmenschen.
Ich kam weiter zu der Einsicht, dass jeder Mensch als Subjekt der Erfahrung der Mittelpunkt einer Welt ist. Aus dem Innersten eines jeden Menschen öffnet sich eine Welt und dehnt sich nach außen ins Unendliche und nach innen in eine bodenlose Tiefe aus. Jede Person, jedes Wesen, jedes Bewusstseinszentrum spiegelt das gesamte Universum wider, und das gesamte Universum konvergiert und bettet sich in jede Person und jedes Wesen ein. Jeder Mensch, jedes Wesen ist eine einzigartige Perspektive, aus der das Universum sich selbst erfährt, ein Lichtstrahl, durch den das Universum Zeugnis von sich selbst ablegt.
Subjektive Erfahrung lässt die Entfernungen von Raum und Zeit verschwinden. Ich schaue nachts in den Himmel und sehe Sterne und Galaxien Lichtjahre entfernt. Sie schauen nachts in den Himmel und sehen auch Sterne und Galaxien in Lichtjahren Entfernung. All diese Sterne und Galaxien sind für mich gegenwärtig, laufen in meinem Bewusstsein zusammen; und sie sind auch für dich gegenwärtig, konvergieren in deinem Bewusstsein. In jedem Moment meiner Wahrnehmung ist die Erfahrung unzähliger Generationen von Lebewesen enthalten. Und damit für uns alle. Jeder unserer gegenwärtigen Gedanken und Handlungen strahlt endlos in eine Zukunft aus, die wir nie vollständig vorhersehen können.
Diese Reflexion führte mich als nächstes zu dem Verständnis, dass, da jeder Mensch im Mittelpunkt der Welt steht – im Mittelpunkt seiner Welt – und dass das Leben eines jeden Menschen mit einem Eigenwert ausgestattet ist, mit einem Wert, der niemals aufgehoben werden kann, der niemals im Namen irgendeiner Sache ausgelöscht werden kann, egal wie erhaben sie ist. Eine Person kann niemals auf einen Träger von rein instrumentellem Wert reduziert werden. Als Erfahrungszentren sind Menschen Selbstzweck, nicht Mittel zu einem anderen Zweck.
Als ich diese Reflexionslinie verfolgte, erkannte ich, dass alle Menschen als Subjekte mit angeborenem Wert Anspruch auf die Dinge haben, die sie brauchen, um zu gedeihen, die Dinge, die sie brauchen, um ihren ursprünglich gegebenen Wert in realisierten lebendigen Wert umzuwandeln. Wir realisieren konkreten Lebenswert, indem wir so leben, dass wir unser Sinnpotential ausschöpfen können . Ein Leben ohne Sinn ist ein vergebliches Leben, ein leeres Leben, ein sinnloses Leben. Menschen werden nicht nur von blinden Instinkten getrieben – zu essen, ihren Begierden nachzugeben und sich fortzupflanzen – sondern versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, mit einem Sinn zu leben. Die Ziele, die wir uns selbst setzen, können würdig oder wertlos, bewundernswert oder verwerflich sein, aber die Suche nach Sinn ist in den Code unseres Bewusstseins eingeschrieben.
Obwohl wir aufgrund unseres Status als bewusste Wesen einen angeborenen Wert besitzen, müssen wir uns bemühen, unserem Leben einen konkreten Wert zu verleihen, indem wir versuchen, Ziele zu erreichen, die es wirklich wert sind, verfolgt zu werden. Ein Leben von positiver Bedeutung, von echtem Wert, hat bestimmte Meilensteine. Es geht darum, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, indem man seine Arbeit erfüllt, seine Fähigkeiten und Talente entwickelt, Quellen für gesunden Genuss findet, seine Interessen erforscht und seinen ästhetischen und spirituellen Bestrebungen nachgeht. Dazu gehört auch, positive Beiträge zum Leben anderer zu leisten: zur eigenen Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft, zum eigenen Land und sogar zur ganzen Welt.
Die Erkenntnis des subjektiven Status von Menschen, die mir schon vor langer Zeit beim Praktizieren der Liebenden-Güte-Meditation dämmerte, führte mich zu einer weiteren Einsicht, die mir im Laufe der Jahre zunehmend an Gewicht gewann. Dies war die Erkenntnis, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen auf dieser Welt ihr Leben unter Bedingungen verbringen, die ihre Suche nach dem optimalen Sinn blockieren und zerstören. Traurigerweise, ja tragischerweise, verurteilen die Kräfte, die ihr Leben bestimmen, sie zu einem unerbittlichen Kampf ums bloße Überleben.
Zu viele schweben am Rande unsäglichen Elends. Sie verbringen ihr Leben unter der Last der Armut, gezwungen, viele Stunden für den bloßen Überlebenslohn zu arbeiten, den Launen anderer ausgesetzt, die ihnen oft überhaupt keine Gnade zeigen. Sie werden nicht als Subjekte, sondern als Objekte behandelt; nicht als Selbstzweck, sondern als bloßes Mittel für die selbstsüchtigen Zwecke anderer.
Viele genießen nicht einmal minimale Anstandsstandards. Sie müssen die Schrecken des Krieges ertragen; Kampf gegen ethnische, rassische oder religiöse Verfolgung; sehen, wie ihre Häuser von Bränden und Überschwemmungen zerstört, ihre Felder von Dürren und Stürmen ausgelöscht werden. Sie werden von einer Reihe leicht behandelbarer Krankheiten heimgesucht. Ihr Leben wird durch einen vorzeitigen Tod verkürzt. Oder wenn sie leben, müssen sie den sinnlosen Tod ihrer Lieben, ihrer Ehepartner und Kinder miterleben.
Zu den schlimmsten Schicksalen, denen ein Mensch ausgesetzt sein kann, gehört chronischer Hunger. Ob durch Hungersnöte, Krieg oder endemische Armut verursacht, Hunger untergräbt Ihr Gefühl für Ihren eigenen angeborenen Wert. Ständiger Hunger wirft dich in eine immense Einsamkeit, ein Gefühl, dass du alleine auf einer Rasierklinge gehst. Sie wissen, dass Sie zum Tode verurteilt sind, wenn Ihr prekärer Zugang zu Nahrung versiegt – Sie selbst und diejenigen, die auf Sie angewiesen sind.
Der Hunger verdammt Sie zu einer unerbittlichen Suche nach Nahrung, einer Suche, die jeden Tag aufs Neue wiederholt werden muss, immer mit der Gefahr, dass noch schlimmerer Hunger gleich um die Ecke lauert. Wenn Sie vom Hunger gepackt sind, verliert das Leben jeden Zweck außer dem einen zwingenden Bedürfnis: zu essen. Das einzige, was eine flüchtige Befriedigung bringt, ist eine angemessene Mahlzeit. Das einzige, was einen in Verzweiflung stürzt, ist die Erkenntnis, dass die Suche nach Nahrung nach dem Essen von vorne beginnen muss.
Die Erkenntnis, dass wir als Individuen jeweils ein Zentrum subjektiver Erfahrung sind, hat eine logische Folge. Das ist die Tatsache, dass sich unsere Subjektivitäten überschneiden. Obwohl ich das Zentrum meines Universums bin und Sie das Zentrum Ihres Universums sind und diese Menschen da drüben jeweils das Zentrum ihres Universums sind, sind diese Universen nicht voneinander abgeschlossen und in sich zusammengefaltet. Vielmehr sind sie miteinander verwoben; sie durchdringen sich und reflektieren sich gegenseitig. Die multiplen Räume der Subjektivität bilden ein einheitliches Feld. Wir besetzen einen gemeinsamen Raum, in dem wir uns als subjektive Wesen ins Gesicht sehen, und der Blick in das Gesicht eines anderen öffnet sein Universum für unsere eigene Vision und lädt uns ein, es zu betreten und darin zu verweilen.
Aus dieser Begegnung mit dem anderen, mit anderen Personen und den anderen Universen, die durch ihre subjektiven Räume konstituiert werden, kann Empathie anschwellen und sich in Mitgefühl verwandeln. Mitgefühl, wie es der Visuddhimagga ausdrückt, ist das, was das Herz eines guten Menschen angesichts des Leidens anderer erbeben lässt. Andere als Subjekte zu sehen bedeutet, sein Herz für ihre Bedürfnisse zu öffnen, ihr Leiden zu erkennen, ihren Hilferuf zu hören, und so zu reagieren, wie es der Situation am besten entspricht.
Der aktive Ausdruck von Empathie ist das bewusste Mitgefühl, die aufrichtige Verpflichtung, das Leiden anderer zu lindern, zu ihrem Wohlergehen beizutragen und danach zu streben, eine Welt zu schaffen, die dem menschlichen Gedeihen förderlich ist. Dies ist das Ideal, das der Arbeit von Buddhist Global Relief zugrunde liegt. Wir sehen unsere Arbeit nicht nur als Ausdruck der Nächstenliebe oder eines humanitären Unterfangens – auch wenn es sicherlich so beschrieben werden kann –, sondern als mutige Bekräftigung der innewohnenden Würde jedes Menschen.
Wenn wir Menschen mit lebenserhaltender Nahrung versorgen – oder noch besser, mit der Chance, aus der Armut herauszukommen und ihren eigenen nachhaltigen Lebensunterhalt zu verdienen – handeln wir aus der Erkenntnis unserer untrennbaren Verbundenheit mit anderen, aus der Resonanz zwischen unserem subjektiven Sein und ihre subjektive Realität. Ein einziges Leben zu retten bedeutet, ein einziges Subjekt zu retten und dadurch eine einzige Welt zu bewahren, ein einziges Universum zu erhalten. Viele Leben aus dem Abgrund des Hungers zu retten bedeutet, viele Subjekte zu retten und dadurch viele Welten, viele Universen zu bewahren, die jeweils von einem einzigartigen Wesen bewohnt werden, dessen Leben von unschätzbarem Wert ist.
Bhante Bhikkhu Bodhi ist Gründer und Vorsitzender von Buddhist Global Relief, und Schirmherr der kleinen europäischen Schwester "Mitgefühl in Aktion e.V."
Vom Ehrwürdigen Bhikkhu Bodhi, Schirmherr von MiA
Quelle: https://www.buddhistglobalrelief.org/reflections-on-gun-violence-in-america
Dieser Aufsatz des Vorsitzenden der BGR und Schirmherrn von MiA stellt Überlegungen zum jüngsten Ausbruch von Massenerschießungen in den USA an, die zwar in keinem direkten Zusammenhang mit unserem Mandat zur Bekämpfung des Hungers in der Welt steht, doch zutiefst unsere Motivation des Mitgefühls und der Mitverantwortung berührt und Grund unseres Engagements für mehr Gerechtigkeit ist. Denn auch wir können uns nicht abwenden von der Realtität zunehmender Gewalt und offengezeigtem Hass - denn dies ist nicht nur ein amerikanisches sondern sehr wohl auch eine europäisches oder gar weltweites gesellschaftbedrohendes Phänomen. Bhante Bodhi schreibt zu den letzten Vorfällen in den USA:
Die Flut von Massenerschießungen, die wir in den letzten Wochen erlebt haben, hat unseren Verstand aufgerüttelt und unser Herz gebrochen. Die Morde geschehen in rascher Folge und lassen uns kaum Zeit zum Verschnaufen. Im Mai in einem Tops-Supermarkt in Buffalo, New York; in einer Grundschule in Uvalde, Texas; in einem Krankenhaus in Tulsa, Oklahoma, und einer Kirche in Ames, Iowa. Am ersten Juniwochenende gab es eine ganze Reihe von Todesfällen durch Schusswaffen, die das ganze Land erschütterten. Massenerschießungen, so scheint es, sind zu einem amerikanischen Zeitvertreib geworden.
Nach jeder Massenerschießung ertönt der Ruf der Nation, dass etwas unternommen werden muss - ein dringender Appell an den Kongress, endlich "etwas zu tun", um die Epidemie der Waffengewalt einzudämmen. Jedes Mal schwillt eine Welle der Hoffnung an, um dann wieder abzubrechen, wenn wir erkennen, dass wir von jenen Politikern im Kongress, die notwendige Reformen verhindern, höchstens "Anteilnahme und Gebete" bekommen.
Wir müssen uns nun der harten Wahrheit stellen, dass wir hier in Amerika nirgendwo mehr sicher sind. Nicht einmal an den vertrautesten Orten, nicht einmal inmitten der alltäglichsten Aktivitäten. Unsere Kirchen, Krankenhäuser, Parkplätze und Arbeitsplätze sind alle zu Gefahrenzonen geworden. Wir können uns nie darauf verlassen, dass wir lebend nach Hause kommen, wenn wir einkaufen gehen; dass wir die Kinder am Nachmittag wieder abholen, wenn wir sie zur Schule bringen. Es tut mir weh, diese Worte zu schreiben, aber sie sind wahr.
Ja, auch in anderen stabilen Demokratien kommt es zu Massenerschießungen, aber bei weitem nicht so häufig wie hier in der "außergewöhnlichen Nation". Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Massenerschießungen nur einen Bruchteil der Vorfälle mit Schusswaffen in den USA ausmachen. Jeden Tag werden in den USA mehr als 110 Menschen durch Schusswaffen getötet. In keinem anderen wirtschaftlich fortgeschrittenen Land gibt es ein solches Gemetzel. Unsere Mordrate durch Schusswaffen ist achtzehnmal so hoch wie die Durchschnittsrate anderer Industrieländer.
Während eine Einschränkung des Zugangs zu Waffen zweifellos dazu beitragen würde, die Zahl der Schießereien in Amerika zu verringern, möchte ich hier das Problem der Waffengewalt aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ich möchte herausfinden, warum das Ausmaß der Waffengewalt hier in Amerika so hoch ist, um die Wurzeln dieser Epidemie, die tieferen Ursachen, die dahinter liegen, zu ergründen.
Ich schlage vor, das Ausmaß der Waffengewalt in diesem Land in einem größeren Zusammenhang zu sehen, als Zeichen eines tiefen Unwohlseins, das die amerikanische Psyche infiziert hat. Der entfernte Hintergrund ist das soziale Ethos dieser Nation, das auf Individualismus, Aggression und Verdrängungswettbewerb um die Vorherrschaft beruht. Dieses Ethos sperrt uns in uns selbst ein und unterbricht die für den sozialen Zusammenhalt notwendigen Bande der Empathie und Solidarität. Infolgedessen leiden wir unter einem kollektiven Gefühl der Isolation und Entfremdung, dem Gefühl, dass wir niemanden haben, an den wir uns wenden können, um Unterstützung zu erhalten. Anstatt uns mit anderen verbunden zu fühlen, treiben wir einsam durchs Leben, sogar in unseren eigenen Familien.
Das selbstgesteckte Ziel der USA, wie es in der Verfassung zum Ausdruck kommt, ist es, "eine vollkommenere Union zu bilden ... das allgemeine Wohl zu fördern und die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu sichern". Zwar haben wir diese Ziele oft verfehlt - sehr weit verfehlt -, aber bis vor kurzem herrschte die weit verbreitete Überzeugung, dass wir uns in diese Richtung bewegen. Wir scharten uns hinter den New Deal, die New Frontier, den Krieg gegen die Armut, die Great Society, die Bürgerrechtsbewegung. Wir bewegten uns gemeinsam, als eine Nation.
In den 1980er Jahren jedoch begannen sich die Bande der gemeinsamen Bestrebungen zu lösen; der soziale Pakt zerbrach. Ein wieder erstarkender Konservatismus ergriff die Macht und ersetzte das liberale Sozialprojekt der vorangegangenen fünf Jahrzehnte durch eine neoliberale Ideologie, die staatliches Handeln im Namen der einfachen Menschen als Fehler ansah. Die Vorstellung, dass wir alle an einem gemeinsamen Projekt beteiligt sind, das auf das Gemeinwohl abzielt, wich einer rauen, ja sogar rücksichtslosen Version des Marktkapitalismus, die das ungezügelte private Unternehmertum als Motor des sozialen Fortschritts ansieht.
Die Auswirkungen dieses Wandels auf unser nationales Bewusstsein waren tiefgreifend. Der Wandel begann auf der Ebene der Ideologie. Die Befürworter des Neoliberalismus vertraten die Auffassung, dass die Gesellschaft eine bloße Abstraktion ist, die aus von Natur aus getrennten Individuen besteht. Sie lehrten uns, uns als isolierte Individuen zu sehen, die ohne wesentliche Verbindungen zu anderen durchs Leben schlängeln. Wir haben keine Verpflichtung gegenüber anderen oder der größeren Gemeinschaft. Wir waren nur für uns selbst und vielleicht für unsere nächsten Angehörigen da.
Die neoliberale Politik hat die Kluft zwischen den Superreichen und allen anderen vergrößert. Die Reichen konnten ihren Reichtum und ihr Einkommen in die Höhe treiben. Die Mittelschicht stagnierte und schrumpfte. Stabile, gut bezahlte Arbeitsplätze verschwanden, da die Unternehmen ihre Aktivitäten ins Ausland verlegten. Die Gig-Economy verstärkte das Gefühl, dass jeder auf sich allein gestellt ist und nur durch Eigeninitiative einen Zusammenbruch verhindern kann.
Das ursprüngliche Bestreben der Nation, "Freiheit und Gerechtigkeit für alle" voranzutreiben, wich einem Credo des "Jeder gegen jeden", einem Kampf, in dem nackter Ehrgeiz alle anderen Werte übertrumpft. Aber es gab auch Partnerschaften. Es entstand eine symbiotische Beziehung zwischen den Oligarchen und der politischen Klasse. Die Politiker sind auf die Super PACs angewiesen, um ihre Kampagnen mit üppigen Spenden zu finanzieren; im Gegenzug bedienen sie die Interessen der Reichen. Die Mittelschicht und die Unterschicht sehen hilflos zu, wie eine strengere Politik sie nach unten treibt und Reichtum und Macht in den Händen weniger zementiert. In der breiten Bevölkerung nimmt der Zynismus den Platz der Hoffnung ein.
Die Diskrepanz zwischen den Idealen, zu denen wir uns bekennen, und der Härte des Alltags schafft eine Spannung, die sich von der wirtschaftlichen Sphäre bis ins Persönliche erstreckt. Uns wird gesagt, dass jeder, der sich anstrengt, Erfolg haben kann, und doch wird uns ein Tablett mit Kürzungen und Sparmaßnahmen gereicht. Wir stehen unter ständigem Druck, es besser zu machen, aber wenn wir scheitern, halten wir uns für Verlierer, für bloßen Abfall und Treibgut in einem gegen uns gerichteten System. Wir geraten in einen Zustand tiefer innerer Unruhe, in dem wir kein Gefühl für die eigene Handlungsfähigkeit mehr haben. Wir haben das Gefühl, dass wir die Richtung unseres Lebens nicht mehr bestimmen können. Ein Gefühl des Mangels nagt an unserer Selbstachtung. Misstrauen, Argwohn, Wut und Angst vermehren sich, breiten sich überall aus und infizieren die gesamte Kultur.
Wo auch immer wir uns befinden, suchen wir nach Rückmeldungen über unseren persönlichen Stand, aus Angst, wir könnten als Versager abgewiesen werden. Alles, was uns bleibt, um unser Selbstwertgefühl zu stärken, ist unsere Herkunft, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit oder Religion, die in einer multirassischen und multikulturellen Gesellschaft jedoch an Bedeutung verlieren. Wir denken, dass diese seltsamen "Anderen" uns um den Status und die Vorteile betrügen, von denen wir annehmen, dass sie uns zustehen.
Die Ressentiments bauen auf dem Gefühl einer angegriffenen Identität auf und führen zu einer Identitätskrise. Die Krise kann entweder kollektiv oder privat sein. Wenn sie eine kollektive Dimension annimmt, wird sie zu einer Krise der Gruppenidentität, die einen leicht in Richtung Rechtsextremismus treiben kann. Die Rhetorik von Möchtegern-Autokraten und rechtsgerichteten Medienpersönlichkeiten schürt den Hass gegen andere Gruppen, die als Bedrohung für den eigenen gefährdeten Status angesehen werden. Die weiße Vorherrschaft erhebt ihr hässliches Haupt und richtet sich gegen Farbige, Einwanderer, Muslime oder Menschen, die nicht in die binären Geschlechterrollen passen. Wenn der Hass stark genug ist, kann er sich in einer Massenerschießung entladen, die auf der Angst beruht, dass die eigene Gruppenidentität in Gefahr ist. Man denke nur an die Schießerei in der methodistischen Emanuel Kirche in Charleston, South Carolina, an die Schießerei in der Baum-des-Lebens-Synagoge in Pittsburg und an die Schießerei im Tops Markt in Buffalo.
Bei anderen jedoch schwelt das Gefühl einer verletzten Identität im Privaten und richtet sich eher gegen die eigene Person als gegen eine Gruppe. Diejenigen, die von dieser Art von Identitätskrise betroffen sind, fühlen sich abgewertet, herabgesetzt und im Stich gelassen. Sie greifen vielleicht zu Alkohol, Drogen, Pornografie oder Gewaltphantasien, um den Schmerz zu lindern. Wenn der Schmerz jedoch die Grenzen der Vernunft überschreitet, kann er zu Selbstmordversuchen oder dem Drang führen, sich an einer Gesellschaft zu rächen, die einem das Selbstwertgefühl abspricht. Ein unhöfliches Wort, ein spöttisches Lächeln, ein Familienstreit oder eine gescheiterte Romanze können einen zum Ausrasten bringen. Und da Waffen so leicht zu erwerben sind, kann das Ergebnis ein zufälliger Mord oder, noch schlimmer, ein Massaker sein. Man denke nur an die Schießerei an der Sandy Hook Grundschule in Connecticut, die Schießerei im Aurora-Kino in Colorado oder die Schießerei an der Robb Grundschule in Uvalde, Texas.
Im Grunde, so würde ich behaupten, ist es das verletzte Identitätsgefühl, das durch den strengen Individualismus unseres sozialen Ethos hervorgerufen wird, das eine solche Mentalität hervorbringt, die zu Massenmorden Anlass gibt. Aus dieser Perspektive können wir diese Massaker und willkürlichen Schießereien nicht einfach als Ausdruck gewöhnlicher psychischer Probleme sehen, sondern als Ausdruck der abartigen, entmenschlichenden, dysfunktionalen Werte unserer Kultur. Dies ist die soziale Pathologie, unter der wir leiden, das Unbehagen, das zu Massenerschießungen führt.
Wenn diese Analyse der Wurzeln unserer Epidemie von Massenerschießungen - wie auch anderer Arten von Waffengewalt - auch nur annähernd richtig ist, dann muss die Abhilfe eine weitreichende Umgestaltung unseres sozialen Ethos beinhalten. Sicherlich sind sofortige praktische Schritte erforderlich, um die Zahl der Todesfälle zu verringern. Die Beweise dafür, dass Waffengesetze funktionieren, sind überwältigend. Wir brauchen ein umfassendes Verbot von Sturmgewehren und Magazinen mit hoher Speicherkapazität. Wir müssen es Menschen mit psychischen Problemen erschweren, Waffen in die Hände zu bekommen. Wir brauchen strenge allgemeine Prüfverfahren, Schulungen und Tests für den Waffenbesitz und Gesetze mit roten Fahnen, um den Zugang zu Waffen für Personen mit problematischer Vorgeschichte einzuschränken.
Aber diese Maßnahmen, so wichtig sie auch sind, behandeln nur die Symptome der Waffengewalt, nicht die Ursachen. Sie berühren nicht die Umstände, die Menschen dazu verleiten, willkürliche Tötungsdelikte zu begehen, egal ob es sich um Einzeltötungen oder Massenerschießungen handelt. Um das Problem auf einer grundlegenderen Ebene anzugehen, bedarf es einer radikalen Umgestaltung unseres gesellschaftlichen Ethos, das nicht mehr auf starkem Individualismus beruhen sollte, sondern ein gemeinsames Engagement für das Gemeinwohl fördern muss. Wir sollten mit der Wirtschaft beginnen. Wir brauchen eine Wirtschaft, deren Leitbild und inspirierendes Ideal das Wohlergehen aller ist. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Zugang zu den materiellen Voraussetzungen für ein gesundes Leben hat, dass niemand durch die Maschen fällt. Wir sind kein armes Land. Wir können problemlos jedem ein Grundmaß an materieller Sicherheit bieten.
Was wir darüber hinaus brauchen, ist ein tiefgreifender Wandel des vorherrschenden moralischen Paradigmas, das Wettbewerb, Status und materiellen Erfolg in den Vordergrund stellt, hin zu einem Paradigma, das Zusammenarbeit und Kooperation lobt. Solch ein Wertewandel hängt von einer Veränderung unserer Ansichten, unseres Selbstverständnisses und unserer Beziehung zu unseren Gemeinschaften und der Welt ab. Wir müssen lernen, uns nicht als isolierte Individuen zu sehen, die in einem unerbittlichen Kampf um die Vorherrschaft gegen andere antreten, sondern als voneinander abhängige, miteinander verbundene Wesen, deren Glück eng mit dem Glück anderer verbunden ist und deren Wohlergehen von größerer Gerechtigkeit und einer blühenden Biosphäre abhängt.
Das derzeitige gesellschaftliche Ethos, das das engstirnige Streben nach Eigennutz fördert, muss einem Ethos weichen, das Empathie und Mitgefühl weckt und das Wohl des eigenen und das der anderen als untrennbar miteinander verwoben ansieht. Ein solches Ethos muss den selektiven Fokus auf materiellen Wohlstand erweitern und alle Wertebereiche einbeziehen, die das menschliche Leben bereichern und veredeln. Dazu gehört auch die Natur, die heute zur Steigerung der Unternehmensgewinne geplündert wird.
Die Bewegung hin zu einem solchen Wandel könnte in unseren Schulen beginnen. Es gibt keinen Grund, warum der Lehrplan der Schulen den Schülern nicht altruistische Werte vermitteln kann, mit Kursen über die Ethik, Empathie und Mitverantwortung. Solche Kurse, die sich auf die Lehren der großen Religionen und der bedeutendsten Moralphilosophen der Welt stützen, könnten den Schülern die Werte vermitteln, die für eine harmonische Gesellschaft entscheidend sind. Der Lehrplan sollte auch Kurse in Staatsbürgerkunde enthalten, in denen die Pflichten einer verantwortungsvollen Staatsbürgerschaft vermittelt werden.
Zwar gibt es keine Garantie dafür, dass ein derartiger Umbruch in unserem gesellschaftlichen Paradigma Mord, Selbstmord und anderen kriminellen Handlungen ein Ende setzt, doch gibt es eindeutige Belege dafür, dass in Ländern mit größerer sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Gleichheit weniger Kriminalität, weniger Alkoholismus und Drogenkonsum, ein höheres Maß an Vertrauen und eine größere Lebenszufriedenheit zu verzeichnen sind als in Ländern mit weniger Gerechtigkeit und krasseren wirtschaftlichen Unterschieden. Wenn wir sehen wollen, ob ein solcher Wandel hier funktionieren kann, müssen wir ihn auf die Probe stellen.
Dies ist eine Aufgabe der Regierung, die nach wie vor der Ausdruck unserer kollektiven Stimme ist. Trotz all seiner Nachteile und Ineffizienzen ist der Staat das einzige Mittel, das uns zur Verfügung steht, um das Gemeinwohl zu gewährleisten.
Man könnte lamentieren, dass unsere Politiker wohl niemals wirklich einer wesentlichen Änderung der Gesellschaftsordnung zustimmen werden. Und tatsächlich scheint eine solche Veränderung mit den derzeitigen Politikern nahezu unmöglich zu sein. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass wir es sind, die sie mit unseren Stimmen überhaupt erst ins Amt gebracht haben. Sie sind im Amt, um uns zu vertreten, und somit liegt die Last des Wandels letztlich auch bei uns. Wenn wir deutlich genug sehen, dass unser Schicksal als Volk und Nation in unseren eigenen Händen liegt, könnten wir die Willenskraft aufbringen, die notwendigen Schritte dazu zu unternehmen.
Übersetzung: Raimund Hopf
Quelle: https://www.buddhistglobalrelief.org/reflections-on-gun-violence-in-america
Liebe Freunde,
Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich wissen, ist Vesak der wichtigste Feiertag des buddhistischen Kalenders, der Tag, an dem die Geburt, die Erleuchtung und der Übergang ins Nirwana des Buddha gefeiert werden. An diesem Tag huldigen wir durch Verehrung, Rituale, Meditation, Gesang und gemeinsame Mahlzeiten dem höchsten spirituellen Lehrer, der uns die "Türen zum Todlosen" geöffnet hat.
Aber Vesak ist auch eine Gelegenheit, bei der wir dem Beispiel des Buddha für Mitgefühl folgen können, seiner aufrichtigen Sorge, das Leiden anderer zu lindern. Der Überlieferung zufolge hat der Buddha den Samen des Mitgefühls in der fernen Vergangenheit gepflanzt, als er in einem früheren Leben das Gelübde ablegte, den Weg zur Befreiung für die Wesen in der fernen Zukunft zu finden. Und wir selbst, die wir heute die Lehren des Buddha annehmen, gehören zu den Nutznießern dieses Gelübdes.
Um den Weg zur Buddhaschaft zu ebnen, kultivierte der zukünftige Buddha Leben nach Leben die höchsten Tugenden, die pāramitās genannt werden, von denen das erste dāna, Großzügigkeit oder Geben ist. Geben war sowohl eine Ursache für das Erreichen der Buddhaschaft als auch der Ausdruck der Erleuchtung im Handeln. 45 Jahre lang reiste der Buddha durch das Land und gab allen, die zu ihm kamen, das Geschenk des Dharma, indem er ihnen den Weg zu Frieden, Freiheit und letztem Glück offenbarte.
Wenn wir dem Buddha im Monat Vesak - dem Monat Mai im westlichen Kalender - unsere Ehrerbietung erweisen wollen, sollten wir seine mitfühlende Mission, anderen zu helfen, fortsetzen. Eine Möglichkeit, wie wir das tun können, ist das Geben. Der Buddha lobte das Geschenk der Nahrung als das wichtigste aller materiellen Geschenke, als ein Geschenk, das zu Leben, Gesundheit, Schönheit, Glück und geistiger Klarheit beiträgt.
Heute ist das Geschenk der Nahrung für viele Menschen auf der Welt ein dringendes Bedürfnis. Fast eine Milliarde Menschen leiden unter chronischem Hunger und Nahrungsmittelknappheit. Mehrere hundert Millionen Menschen leben in einer Hungersnot, die sie an den Rand des Überlebens bringt. Und mit dem sich beschleunigenden Klimawandel, den hohen Brennstoffpreisen und Kriegen nimmt das Ausmaß des Hungers noch zu.
Wir alle können etwas tun, und sei es noch so wenig, um den von Hunger und Unterernährung Betroffenen zu helfen. Seit fast vierzehn Jahren widmet sich die Buddhist Global Relief und seit 3 Jahren auch Mitgefühl in Aktion dieser Aufgabe. Zurzeit unterstützen wir fünfzig Projekte in Asien, Afrika, Lateinamerika, Haiti und den USA. Sieben davon mit unserem europäischen Partner MiA. Diese Projekte bieten direkte Nahrungsmittelhilfe, Bildung für arme Kinder, Möglichkeiten für einen angemessenen Lebensunterhalt und andere Formen der Hilfe. Wir sehen diese Arbeit weniger als eine Form der "Wohltätigkeit", sondern vielmehr als Ausdruck der Solidarität, als eine Möglichkeit, die Menschlichkeit der Menschen, denen wir dienen, zu stärken und ihnen zu helfen, ihr eigenes Potenzial für ein sinnvolles, würdiges und erfülltes Leben zu erkennen. Mit der Gabe von Lebensmitteln ermöglichen wir ihnen, würdevoll und zuversichtlich in ihre Zukunft zu blicken.
Wenn Sie sich an unserer Arbeit beteiligen möchten, ziehen Sie bitte in Erwägung, Mitgefühl in Aktion während des Vesakmonats eine großzügige Spende zukommen zu lassen. Damit ehren Sie den Buddha und entfalten gleichzeitig Ihr eigenes Potenzial an Großzügigkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl. Ein solches Geschenk wird eine Quelle tiefer innerer Freude sein, die noch lange in die Zukunft reicht.
Ich danke Ihnen sehr für die Umsetzung dieser Botschaft. Mit Segenswünschen,
Bhikkhu Bodhi, Vorsitz der BGR und Schirmherr von MiA
Übersetzung Raimund Hopf
Übersetzung und Veröffentlichung anlässlich unseres Juni-Aktionsmonats 2021:
Eine buddhistische Erklärung zum Klimawandel
2015
Bhikkhu Bodhi und David Loy
Wir leben heute in einer Zeit der großen Krise, konfrontiert mit der größten Herausforderung, vor die die Menschheit je gestellt wurde: den ökologischen Folgen unseres eigenen kollektiven Karmas. Der wissenschaftliche Konsens ist überwältigend: Es ist das Handeln der Menschheit, die den Zusammenbruch der Umwelt in einem planetarischen Ausmaß auslöste.
Insbesondere die globale Erwärmung vollzieht sich viel schneller als vorhergesagt, am deutlichsten am Nordpol. Seit Hunderttausenden von Jahren war der Arktische Ozean von einem Meereis bedeckt, das so groß wie Australien war, doch jetzt rapide schmilzt. Im Jahr 2014 prognostizierte das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), dass die Arktis bis Mitte des Jahrhunderts ohne sommerliches Meereis sein könnte. Andere führende Wissenschaftler sind der Meinung, dass dies innerhalb eines Jahrzehnts geschehen könnte.
Auch die Gletscher auf der ganzen Welt gehen schnell zurück. Wenn die derzeitige Wirtschaftspolitik anhält, werden die Gletscher des tibetischen Plateaus, die Quelle der großen Flüsse, die Milliarden von Menschen in Asien mit Wasser versorgen, wahrscheinlich bis Mitte des Jahrhunderts verschwinden. Schwere Dürren und Ernteausfälle betreffen bereits jetzt viele Länder. Maßgebliche Berichte des IPCC, der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der International Union for Conservation of Nature - stimmen darin überein, dass ohne einen kollektiven Richtungswechsel bis 2030 die schwindenden Vorräte an Wasser, Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen bis Mitte des Jahrhunderts zu weit verbreiteten Hungersnöten, Ressourcenkämpfen und Massenmigration führen könnten , so der oberste wissenschaftliche Berater des Vereinigten Königreichs.
Die globale Erwärmung spielt auch eine große Rolle bei anderen ökologischen Krisen, einschließlich des Verlustes vieler Pflanzen- und Tierarten, die diese Erde mit uns teilen. Ozeanographen berichten, dass die Hälfte des Kohlenstoffs, der durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt wird, von den Ozeanen absorbiert wurde und deren Säuregehalt um etwa 30 % erhöht hat. Die Versauerung stört die Verkalkung von Muscheln und Korallenriffen und bedroht das Planktonwachstum, die Quelle der Nahrungskette für das meiste Leben im Meer.
Renommierte Biologen und UN-Berichte stimmen darin überein, dass „weitermachen wie bisher“ die Hälfte aller Arten auf der Erde innerhalb dieses Jahrhunderts zum Aussterben bringen wird. Gemeinsam verletzen wir das erste ethische Gelübde, „Ich will vermeiden, Lebewesen zu schaden“, im größtmöglichen Ausmaß. Und wir können die biologischen Konsequenzen für das menschliche Leben nicht vorhersehen, wenn so viele Arten, die wenn auch für uns nicht sichtbar, zu unserem eigenen Wohlbefinden beitragen, vom Planeten verschwinden.
Viele Wissenschaftler sind zu dem Schluss gekommen, dass das Überleben der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel steht. Wir haben einen kritischen Punkt in unserer biologischen und sozialen Evolution erreicht. Es gab noch nie eine wichtigere Zeit in der Geschichte, um die Richtlinien des Buddhismus im Namen aller Lebewesen zur Geltung zu bringen. Die vier edlen Wahrheiten bieten einen Rahmen, um unsere gegenwärtige Situation zu diagnostizieren und angemessene Richtlinien zu formulieren. Denn die Bedrohungen und Katastrophen, denen wir gegenüberstehen, entspringen letztlich dem menschlichen Geist und erfordern daher tiefgreifende Veränderungen in unserem Geist. Wenn persönliches Leiden von Begierde und Unwissenheit herrührt - von den drei Giften der Gier, des bösen Willens und der Verblendung, so gilt das auch für das Leiden, das uns im kollektiven Maßstab heimsucht.
Unsere ökologische Notlage ist eine größere Version des immerwährenden menschlichen Dilemmas. Sowohl als Individuen als auch als Spezies leiden wir unter einem Selbstgefühl, das sich nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von der Erde selbst abgekoppelt fühlt. Wie Thích Nhất Hạnh gesagt hat: „Wir sind hier, um aus der Illusion unseres Getrenntseins zu erwachen.“ Wir müssen aufwachen und erkennen, dass die Erde sowohl unsere Mutter als auch unser Zuhause ist - und in diesem Fall kann die Nabelschnur, die uns mit ihr verbindet, nicht durchtrennt werden. Wenn die Erde krank wird, werden wir krank, denn wir sind ein Teil von ihr.
Unsere derzeitigen wirtschaftlichen und technologischen Beziehungen mit dem Rest der Biosphäre sind nicht nachhaltig. Um die bevorstehenden rauen Übergänge zu überstehen, müssen sich unsere Lebensstile und Erwartungen ändern. Dazu gehören neue Gewohnheiten ebenso wie neue Werte. Die buddhistische Lehre, dass die allgemeine Gesundheit des Individuums und der Gesellschaft vom inneren Wohlbefinden abhängt und nicht nur von wirtschaftlichen Indikatoren, hilft uns, die persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen zu bestimmen, die wir vornehmen müssen.
Jeder Einzelne von uns muss sich Verhaltensweisen aneignen, die unser tägliches ökologisches Bewusstsein erhöhen und unseren „Kohlenstoff-Fußabdruck“ reduzieren. Diejenigen von uns in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften müssen ihre Häuser und Arbeitsplätze energetisch nachrüsten und isolieren, die Thermostate im Winter senken und im Sommer erhöhen, hocheffiziente Glühbirnen und Geräte verwenden, ungenutzte Elektrogeräte ausschalten, möglichst kraftstoffsparende Autos fahren und den Fleischkonsum zugunsten einer gesunden, umweltfreundlichen pflanzlichen Ernährung reduzieren.
Diese persönlichen Aktivitäten werden allein nicht ausreichen, um zukünftiges Unheil abzuwenden. Wir müssen auch institutionelle Veränderungen vornehmen, sowohl technologisch als auch wirtschaftlich. Wir müssen unsere Energiesysteme so schnell wie möglich „entkarbonisieren“, indem wir fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energiequellen ersetzen, die unbegrenzt, gutartig und harmonisch mit der Natur sind. Insbesondere müssen wir den Bau neuer Kohlekraftwerke stoppen, da Kohle die bei weitem umweltschädlichste und gefährlichste Quelle für atmosphärischen Kohlenstoff ist. Klug eingesetzt, können Windkraft, Solarenergie, Gezeitenkraft und Erdwärme die gesamte Elektrizität liefern, die wir benötigen, ohne die Biosphäre zu schädigen. Da bis zu einem Viertel der weltweiten Kohlenstoffemissionen aus der Abholzung von Wäldern resultiert, müssen wir die Zerstörung der Wälder rückgängig machen, insbesondere des lebenswichtigen Regenwaldgürtels, in dem die meisten Pflanzen- und Tierarten leben.
Es ist in letzter Zeit ziemlich offensichtlich geworden, dass auch in der Art und Weise, wie unser Wirtschaftssystem strukturiert ist, erhebliche Änderungen erforderlich sind. Die globale Erwärmung steht in engem Zusammenhang mit den gigantischen Energiemengen, die unsere Industrien verschlingen, um den Konsum zu ermöglichen, an den sich viele von uns gewöhnt haben. Aus buddhistischer Sicht würde eine gesunde und nachhaltige Wirtschaft vom Prinzip der Suffizienz bestimmt werden: Der Schlüssel zum Glück ist Zufriedenheit und nicht ein immer größer werdender Überfluss an Gütern. Der Zwang, immer mehr zu konsumieren, ist ein Ausdruck von Begierde, genau das, was der Buddha als Ursache des Leidens ausgemacht hat.
Anstelle einer Wirtschaft, die den Profit in den Vordergrund stellt und ständiges Wachstum erfordert, um einen Kollaps zu vermeiden, müssen wir uns gemeinsam auf eine Wirtschaft zubewegen, die einen zufriedenstellenden Lebensstandard für alle bietet und uns gleichzeitig erlaubt, unser volles (auch spirituelles) Potenzial in Harmonie mit der Biosphäre zu entwickeln, die alle Lebewesen, auch zukünftige Generationen, erhält und nährt. Wenn die politischen Führer nicht in der Lage sind, die Dringlichkeit unserer globalen Krise zu erkennen, oder nicht gewillt sind, das langfristige Wohl der Menschheit über den kurzfristigen Nutzen der fossilen Brennstoffkonzerne zu stellen, müssen wir sie durch anhaltende Kampagnen ziviler Aktionen herausfordern.
Dr. James Hansen von der NASA und andere Klimaforscher haben kürzlich die genauen Ziele definiert, die erforderlich sind, um zu verhindern, dass die globale Erwärmung katastrophale „Kipppunkte“ erreicht. Damit die menschliche Zivilisation nachhaltig ist, darf der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre nicht mehr als 350 Teile pro Million (ppm) betragen. Dieses Ziel wurde vom Dalai Lama zusammen mit anderen Nobelpreisträgern und angesehenen Wissenschaftlern befürwortet. Unsere derzeitige Situation ist äußerst besorgniserregend, da der Wert bereits bei 400 ppm liegt und um 2 ppm pro Jahr ansteigt. Wir sind gefordert, nicht nur die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, sondern auch große Mengen des bereits in der Atmosphäre vorhandenen Kohlenstoffgases zu entfernen.
Als Unterzeichner dieser Erklärung der buddhistischen Prinzipien erkennen wir die dringende Herausforderung des Klimawandels an. Wir schließen uns dem Dalai Lama an und befürworten das 350 ppm-Ziel. In Übereinstimmung mit den buddhistischen Lehren akzeptieren wir unsere individuelle und kollektive Verantwortung, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um dieses Ziel zu erreichen, einschließlich, aber nicht darauf beschränkt, die oben beschriebenen persönlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen.
Wir haben ein kurzes Zeitfenster, um Maßnahmen zu ergreifen, die die Menschheit vor einer drohenden Katastrophe bewahrt und das Überleben der vielen vielfältigen und schönen Lebensformen auf der Erde zu unterstützt. Zukünftige Generationen und die anderen Spezies, die die Biosphäre mit uns teilen, haben keine Stimme, um unser Mitgefühl, unsere Weisheit und unsere Führung zu fordern. Wir müssen auf ihr Schweigen hören. Wir müssen auch ihre Stimme sein und in ihrem Namen handeln.
***
Diese Erklärung wurde von vielen buddhistischen Lehrern und Repräsentanten unterschrieben, darunter:
Dalai Lama XIV
Gyalwang Karmapa XVII
SakyaTrizin Rinpoche
Dudjom Rinpoche
Chatral Rinpoche
Thrangu Rinpoche
Dzongsar Khyentse Rinpoche
Ato Rinpoche
RinguTulku Rinpoche
Chokyi Nyima Rinpoche
Tsoknyi Rinpoche
Dzigar Kongtrul Rinpoche
Bhikkhu Bodhi
Robert Aitken
Joanna Macy
Joseph Goldstein
Taigen Dan Leighton
Susan Murphy
Matthieu Ricard
Hozan Alan Senauke
Lin Jensen
und
Thich Nhat Hanh
Wir leben in einer gewalttätigen Welt, einer turbulenten Welt, in der sich der Kreislauf des Tötens und Verstümmelns, der Wut und der Rache ohne Ende zu drehen scheint. In den letzten Monaten haben wir in den USA wütende junge Männer gesehen, die mit Sturmgewehren bewaffnet waren und Amok liefen. Wir haben Ausbrüche von rassistischem und ethnischem Hass erlebt, den Aufstieg von Rechtsextremisten und sogar einen gewalttätigen Angriff auf das Kapitol unserer Nation. Die internationale Szene ist kaum besser, denn wir lesen von terroristischen Bombenanschlägen, tödlichen Blockaden und einer neuen Welle von zerstörerischen Konflikten im Nahen Osten, die das Leben von palästinensischen und israelischen Zivilisten fordern.
Die Zerstörung von Menschenleben löst niemals das Problem, das sie lösen soll, und ihre Folgen sind immer tragisch. Es dauert nur ein paar Sekunden, den Abzug einer Waffe zu betätigen, aber für diejenigen, die einen geliebten Menschen durch die Kugeln verlieren, dauert der Herzschmerz ein Leben lang. Eine Bombe auf einem überfüllten Markt geht in Sekundenschnelle hoch, aber sie hinterlässt weinende Familien. Ein Luftangriff auf eine überfüllte Stadt dauert weniger als eine Stunde, aber der Schmerz der Eltern, die ein Kind verlieren, der Kinder, die ihre Eltern verlieren, des Mannes oder der Frau, die ihren geliebten Partner verlieren, heilt nie. Auf die Spur des Tötens folgt nur Schmerz, Herzschmerz und unstillbare Trauer!
Die Frage, über die wir alle nachdenken sollten, lautet: Wie können wir diesem Strudel von Hass und Zerstörung ein Ende setzen? Wie können wir eine Welt des Friedens aufbauen, ohne Krieg und Gewalt? Wie können wir unsere eigene Menschlichkeit zurückgewinnen, die Gefahr läuft, durch dieses Übermaß an Gewalt und Töten ausgelöscht zu werden?
Licht auf diese Fragen kommt vom Buddha, dessen Geburt, Erleuchtung und Nirwana wir am Vesak, dem Vollmondtag im Mai, feiern. Der Buddha führt die heikelsten Probleme des menschlichen Lebens auf ihre tiefsten Wurzeln im Geist zurück. Welche bösen Taten es auch immer gibt, sagt er, sie haben alle ihren Ursprung im Geist, und deshalb müssen sie letztendlich im Geist ausgelöscht werden. Das gilt auch für das Töten, das aus Hass und Groll geboren wird.
Der Weg zur Überwindung des Hasses ist lang und schwierig, aber er beginnt mit etwas, über das wir direkte Kontrolle haben, nämlich mit unserem Verhalten. Die Grundlage des Pfades des Buddha ist das Führen eines moralischen Lebens, eines Lebens, das von Gelübden bestimmt wird, und das erste Gelübde im Moralkodex des Buddha ist, sich der Zerstörung von Leben zu enthalten - der Zerstörung allen empfindungsfähigen Lebens, ob Mensch oder Tier.
Dieses Gelübde hat weitreichende Auswirkungen. Als Übungsregel wird es einfach als "sich der Zerstörung von Leben enthalten" angegeben, aber in einer erweiterten Version sagt der Buddha, dass man sich selbst der Zerstörung von Leben enthalten soll, andere ermutigen soll, sich des Tötens zu enthalten, die Enthaltsamkeit vom Töten loben soll und sich freuen soll, wenn man erfährt, dass andere sich der Zerstörung von Leben enthalten.
Um den Grund für dieses Gelübde zu verstehen, müssen wir zunächst einen einfachen Akt der Introspektion durchführen. Wenn wir in unseren eigenen Geist schauen, können wir sehen, dass unser grundlegendster Drang zu leben ist, dass wir instinktiv vor dem Tod und vor allen Bedrohungen für unser Überleben zurückschrecken. Auf der Grundlage dieses einfachen Akts der Reflexion können wir sofort erkennen, dass jeder andere Mensch - ob ein lieber Mensch oder ein Fremder, ob von unserer eigenen Rasse oder einer anderen Gruppe, ob von unserer eigenen Religion oder einer anderen Religion - in ähnlicher Weise den Tod vermeiden möchte. Wir können intuitiv begreifen, dass jeder andere Mensch leben will, und zwar gut leben will.
Diese Überlegung weckt in uns ein tiefes Gefühl der Empathie mit der gesamten Menschheit, und in der Tat mit allen anderen fühlenden Wesen. Die Scheuklappen der Selbstbezogenheit fallen ab, so dass wir uns selbst in anderen und andere in uns selbst sehen können. Dieses Gefühl der Empathie manifestiert sich als ein Gefühl der Solidarität, eine enge Identifikation mit anderen, die in uns das Bestreben weckt, ihr Leben zu schützen, die Hindernisse für ihr Wohlergehen zu beseitigen und ihnen zu helfen, zu gedeihen und ihr volles Potenzial zu verwirklichen.
Es ist für uns als Einzelne unmöglich, all die Gewalt und willkürliche Zerstörung zu beseitigen, die wir überall um uns herum erleben. Aber indem wir ein Leben der Gewaltlosigkeit führen, können wir einen Unterschied machen; wir können zu einer friedlicheren und harmonischeren Welt beitragen. Wenn wir uns fest an das Gelübde des Nicht-Tötens halten und einen Geist der Liebe und des Mitgefühls für die gesamte Menschheit und alle fühlenden Wesen kultivieren, werden wir zu einer Insel des Friedens und der Ruhe inmitten der Turbulenzen. Wir werden ein Licht in der Dunkelheit werden, eine Quelle des Segens und des guten Willens, die in die ganze Welt hinausfließt.
Wenn sich genug von uns zu einem Leben der Gewaltlosigkeit, der Liebe und des mitfühlenden Handelns verpflichten, könnte es uns gelingen, eine Gegenströmung zur Flut der zerstörerischen Gewalt in Gang zu setzen, die uns verschlingt und so viel Leid bringt. Wir könnten alte Feindschaften in eine Feier unserer essentiellen Einheit verwandeln, uns über Grenzen hinweg die Hände reichen und ein paar kleine Schritte in Richtung des Zustandes des globalen Friedens machen, nach dem wir uns sehnen.
Wir wünschen Ihnen allen ein glückliches und friedliches Vesak!
Zunächst möchte ich Ihnen allen für Ihre Teilnahme an der heutigen Online-Veranstaltung danken. Ursprünglich war dieses Treffen für Juni 2020 geplant, und Kim Behan und ich hatten geplant, zu dieser Veranstaltung nach Hamburg zu kommen. Ich hatte sogar schon ein Flugticket gekauft. Damals sahen wir jedoch den Ausbruch des Coronavirus nicht voraus und können nun alle Veranstaltungen nur noch online durchführen.
Roland Müller hat bereits schon über die Hintergründe gesprochen, die zur Entstehung von MiA (Mitgefühl in Aktion e.V.) geführt haben, aber ich möchte hier zunächst meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass diese Zusammenarbeit stattfindet. Mein besonderer Dank gilt der Kerngruppe von Personen, die zur Gründung von MiA beigetragen haben und die die Arbeit von MiA leiten. Ich bin auch dankbar, dem Verein MiA als Schirmherr dienen zu dürfen, was eine große Ehre für mich bedeutet.
Ich möchte gerne ein wenig über das Entstehen der Buddhist Global Relief sprechen und die Einstellung, die unsere Arbeit bestimmt. Die Saat der BGR wurde bereits 2007 gelegt, als die nordamerikanische buddhistische Zeitschrift Buddhadharma mich bat, einen redaktionellen Beitrag für ihre Sommerausgabe zu schreiben. Als ich mich hinsetzte, um diesen Essay zu schreiben, dachte ich, ich sollte meine Gedanken zum Ausdruck bringen über die Richtung, in die der Buddhismus in den Vereinigten Staaten und im Westen im weiteren Sinne eingeschlagen hat, ebenso darüber, in welche Richtung er sich meiner Meinung nach bewegen sollte.
Im Jahr 2002 kam ich zurück in die USA, nachdem ich 20 Jahre lang als Mönch in Asien, hauptsächlich Sri Lanka, gelebt hatte. Nach meiner Rückkehr stellte ich fest, dass der amerikanische Buddhismus seinen Schwerpunkt fast ausschließlich auf die Meditationspraxis legte. Die Menschen glaubten, die Ausübung des Buddhismus sei ausschließlich Meditation zu praktizieren, ob Vipassana, Zen oder eine der Formen der tibetischen Meditation. Die Praxis der Meditation ist natürlich zentral im Buddhismus. Und ohne Meditation wäre das Herz des Dharma verloren. Aber es schien mir, dass Menschen, die den Buddhismus annahmen, sich zu sehr auf Meditation konzentrierten und die umfassenderen ethischen Aspekte des Dharma vernachlässigten.
Als ich in die USA zurückkehrte, machte ich mich mit dem Internet vertraut, zu dem ich in Sri Lanka keinen Zugang hatte. Jeden Tag las ich mehrere Nachrichten-Websites, und die Berichte, die ich las, erinnerten mich ständig an die schreckliche Last des Leidens, die auf Menschen auf der ganzen Welt lastet, selbst in den USA, dem reichsten Land der Menschheitsgeschichte. Ich las über Naturkatastrophen, Wirbelstürme, Erdbeben, den südasiatischen Tsunami, politische Tyrannei, die US-Kriege im Irak und in Afghanistan; über Hunger und Hungersnot, Armut, Bürgerkriege, Gewalt gegen Frauen und andere Arten sozialer Ungerechtigkeit.
Es schien mir, dass wir Buddhisten, wenn wir die Anforderungen liebender Güte und des Mitgefühls erfüllen wollen, eine aktivere Position im Bereich des sozialen Handelns einnehmen müssen. Ich sah dies als eine zutiefst moralische Herausforderung, der sich der Buddhismus stellen muss, wenn er auch in Zukunft seine Relevanz behalten will. Andernfalls könnte es passieren, dass der Buddhismus zu einem „intellektuellen Spielzeug“ einer wohlhabenden, privilegierten Elite wird, die vor dem unermesslichen Leid der Menschheit die Augen verschließt. So wie ich es sah, reichte es nicht aus, in der Behaglichkeit unserer Schrein-Räume und Meditations-Zentren liebevolle Güte und Mitgefühl zu entwickeln. Wir müssen diese Qualitäten auch als Motive für sozial-transformierende Maßnahmen nutzen. In meinem Aufsatz schrieb ich:
„Eine besondere Herausforderung für den Buddhismus in unserer Zeit besteht darin, sich als Anwalt für Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen, für die Opfer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit, die nicht aufstehen und für sich selbst sprechen können. Dies ist meiner Ansicht nach eine zutiefst moralische Herausforderung, die einen Wendepunkt in einer modernen Übertragung des Buddhismus markiert. Dies weist in eine Richtung, die der heutige Buddhismus einschlagen sollte, wenn er an dem Wirken des Buddha für die Menschheit teilhaben will.“
Als diese Ausgabe des Buddhadharma-Magazins veröffentlicht wurde, lasen mehrere meiner Freunde und Schüler diesen Artikel. Sie sprachen mit mir darüber, und wir begannen zu diskutieren, wie wir dieser „besonderen Herausforderung, die sich dem heutigen Buddhismus unserer Zeit stellt“ begegnen können. Nach einigen Diskussionsrunden beschlossen wir, eine buddhistische Hilfsorganisation zu gründen. Es schien eine extrem idealistische Idee zu sein, und zunächst waren wir unsicher, was genau eine solche Hilfsorganisation tun könnte. Ich schlug vor, dass wir uns auf das Problem des Hungers und der Unterernährung konzentrieren sollten.
Dieser Vorschlag beruhte auf meinen eigenen Erfahrungen während meiner ersten beiden Jahre als Mönch in Sri Lanka, in den Jahren 1972 bis 1974. Zu dieser Zeit befand sich Sri Lanka in einer Phase wirtschaftlicher Umgestaltung, die einen hohen Tribut von der Bevölkerung forderte. In dem Kloster, in dem ich lebte, in einem armen Teil des Landes, musste ich oft mit einer spärlichen Ernährung auskommen. Das Frühstück war ein wässriger Reisbrei, das Mittagessen bestand aus Reis und leichtem Gemüse, und nach zwölf Uhr mittags gab es nichts mehr zu essen. Während dieser Zeit lernte ich aus erster Hand, wie Hunger sich anfühlt. Es war nicht nur der Hunger, den man verspürt, wenn man ein paar Mahlzeiten auslässt. Es war der Hunger, den man erlebt, wenn man Monat für Monat nicht genügend nahrhafte Lebensmittel erhät, so dass sogar die Zellen des Körpers nach den fehlenden Nährstoffen zu schreien scheinen.
Die BGR begann mit einer kleinen Gruppe engagierter Menschen, die Mitgefühl in Aktion umsetzen wollten. Wir erhielten einige großzügige Spenden, wodurch wir ein Bankkonto mit 20.000 US-Dollar eröffnen konnten. Damit starteten wir drei Pilotprojekte in Sri Lanka, Vietnam und Myanmar. Wir machten diese auf unserer Website bekannt und veröffentlichen einen regelmäßigen Newsletter. Es dauerte nicht lange, bis wir weitere Spenden und mehr freiwillige Unterstützung erhielten, wodurch wir die Anzahl und Reichweite unserer Projekte ausweiten konnten. In den letzten Jahren arbeiteten wir mit einem Projektbudget von etwa 600.000 US-Dollar und unterstützten über 40 Projekte in der ganzen Welt. Wir hoffen, dass wir in Zusammenarbeit mit MiA (Mitgefühl in Aktion e.V.) noch mehr Projekte realisieren und die Unterstützung bestehender Projekte auf ein höheres Niveau anheben können.
Ich beschreibe die Einstellung, die hinter der Arbeit von BGR steht, gerne mit dem Ausdruck „conscientious compassion“, (übertragen:) verantwortungsbewusstes Mitgefühl. Dieser Ausdruck bringt zwei Eigenschaften zusammen. Die Grundlage ist natürlich Mitgefühl, das Gefühl, das entsteht, wenn unsere Herzen durch das Leiden anderer tief bewegt werden. Die andere Komponente wird hier durch das Wort „conscientious“ angedeutet, das auf dem lateinischen Wort für „Gewissen“ basiert. Mit Gewissen meine ich nicht das Schuldgefühl, das entsteht, wenn wir etwas Falsches tun, sondern den inneren Zwang, gemäß unserer Wahrnehmung dessen zu handeln, was richtig und notwendig ist, als Antwort auf die ethischen Forderungen unserer Situation in der Welt. Verantwortungsbewusstes Mitgefühl bedeutet also erstens, dass unsere Herzen von Mitgefühl bewegt werden, wenn wir miterleben, wie andere leiden. Und zweitens sagt uns unser „voice of conscience“ (die Stimme unseres Gewissens), anders ausgedrückt, unser Empfinden für Mitverantwortung, dass wir Maßnahmen ergreifen sollten, um ihr Leiden zu lindern.
Verantwortungsbewusstes Mitgefühl hat seine Wurzeln in grundlegenden Eigenschaften, die vom Buddha-Dharma betont werden, wie liebende Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit. Es wurzelt aber auch in einem tiefen Engagement für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Obwohl die Betonung der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit ihre Wurzeln im modernen Denken hat, ist sie dem Dharma nicht völlig fremd. Ein Aspekt des Wortes Dharma ist in der Tat der der „Gerechtigkeit“. Es heißt, dass der sogenannte „Rad drehende Weltenherrscher“ sein Reich in Übereinstimmung mit dem Dharma regiert, was bedeutet, dass er gerecht für das Wohlergehen und Glück aller in seinem Reich regiert, sogar der Vögel und Kriechtiere. Heute haben wir keinen Rad drehenden Weltenherrscher an der Spitze unserer Regierung, also müssen wir selbst handeln, um sicherzustellen, dass das Dharma der Gerechtigkeit in der Welt vorherrscht.
Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass es große Wohlstandsunterschiede zwischen einer kleinen, mächtigen Finanz-Elite und den Massen von Menschen gibt, die am Rande des Überlebens sind. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass einige in extremem Luxus leben, während zwei Milliarden Menschen hungern oder unterernährt sind. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass Arbeiter selbst in den USA ständig Überstunden leisten müssen, aber keinen existenzsichernden Lohn erhalten; dass Milliarden von Menschen keine medizinische Grundversorgung erhalten; dass Kinder nicht zur Schule gehen können, sondern hart arbeiten und sogar in Kriegen mitkämpfen müssen. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe mit langen Haftstrafen ins Gefängnis gesteckt oder von der Polizei getötet werden; dass Flüchtlinge, die Zuflucht vor gewalttätigen Regimes suchen, in Käfige gesteckt oder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, wo sie Todesschwadronen gegenüberstehen. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit hier in Amerika, dass Hunderte von Milliarden Dollar in die Produktion von Kriegswaffen fließen, während Millionen von Kindern hungrig zu Bett gehen.
Ein Aspekt unserer Hilfprojekte bedarf besonderer Erwähnung. Wenn die Menschen erfahren, dass wir uns auf die Linderung von Hunger und Unterernährung konzentrieren, stellen sie sich vor, dass es bei diesen Projekten darum geht, Nahrungsmittel direkt an hungernde Menschen zu verteilen. Mehrere unserer Projekte arbeiten auf diese Weise, und unter bestimmten Umständen ist diese Art der Hilfe absolut notwendig. Die direkte Nahrungsmittelhilfe ist jedoch nur ein Aspekt unseres Auftrages, und nicht der wichtigste. Das Wichtigste ist, Menschen in die Lage zu versetzen, die ihnen innewohnende menschliche Würde zu erkennen und auf Grundlage dieser Anerkennung handeln zu können. Dazu müssen die Menschen in die Lage versetzt werden, für sich selbst sorgen zu können. Wir wollen Menschen nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis einsperren, sondern ihnen helfen, autark und unabhängig zu werden. Mit anderen Worten: Wir wollen Menschen helfen, sich selbst helfen zu können.
Der Schlüssel bei der Hilfe zur Selbsthilfe liegt in der allgemeinen und beruflichen Bildung. Wenn Kinder gut ausgebildet sind, werden sie im Erwachsenenalter in der Lage sein, sich und ihre Familien besser zu versorgen. Mädchen, die gut ausgebildet sind, werden in ihren Familien und Gemeinschaften stärker respektiert, haben weniger Kinder und tragen mehr zum Unterhalt ihrer Familien bei. Das Gleiche gilt, wenn Frauen mehr an ihren Arbeitsplätzen verdienen oder eigene Unternehmen zum Lebensunterhalt gründen können. Deshalb legen wir in unserer Arbeit einen Schwerpunkt auf die Bildung für Mädchen und die Berufsausbildung für Frauen. Diese Projekte bieten die Instrumente, die den Menschen helfen, der Armutsfalle zu entkommen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen.
Meines Erachtens ist es heute unsere Aufgabe als Buddhisten, die Kultivierung innerer Werte mit transformativem Handeln im Äußeren zu verbinden. Das Lebenselixier des Dharma ist die Entwicklung, Reinigung und Befreiung des Geistes, und dies kann nicht vernachlässigt werden, ohne den Dharma zu gefährden. Aber ebenso können wir nicht unseren Blick vom Leiden in der Welt abwenden, ohne die ethischen Anforderungen des Dharma zu verraten. Stattdessen müssen wir innere Entwicklung und soziales Handeln in Einklang bringen. Wir sollten daher die durch innere Entwicklung gewonnene spirituelle Kraft - die Kraft der Weisheit, Freundlichkeit und des Mitgefühls - nutzen, um uns in der Arbeit zu stärken, die eine andere Art von Welt, nämlich eine gerechtere, ermöglicht, eine Welt, die sicherstellt, dass niemand unnötig leidet, eine Welt, die jedem die Chance gibt, zu gedeihen und in Würde zu leben. Das sehe ich als den größten Auftrag in der Partnerschaft zwischen Buddhist Global Relief und Mitgefühl in Aktion e.V.
Dr. Ven. Bhante Bhikkhu Bodhi, Chairman der BGR und Schirmherr von Mitgefühl in Aktion
(aus dem Amerikanischen übersetzt von R. Hopf)
Übersetzung:
Hallo, mein Name ist Bhikkhu Bodhi. Ich bin vor allem bekannt als Übersetzer für buddhistische Texte von Pali ins Englische, aber ich will Ihnen heute von einem anderen Projekt erzählen, in das ich involviert bin.
Seit Jahren wollte ich als Buddhist etwas tun, um Mitgefühl und Handlung auszudrücken, um die hohen Ideale des Buddhismus in eine Form von Tätigkeit zu übersetzen, die anderen menschlichen Wesen direkt nützen würde. Ich stellte fest, dass einige meiner Dhamma-Freunde in dieselbe Richtung dachten. Also gründeten wir letztes Jahr, im Mai letzten Jahres, zusammen eine Organisation, die wir „Buddhist Global Relief” nennen.
Wir wollten einen bestimmten Fokuspunkt für diese Organisation finden, und wir entschieden, dass unsere spezielle Mission sein sollte, Nahrungsmittelhilfen für die zur Verfügung zu stellen, die an Hunger und chronischer Unterernährung leiden.
Jedes Jahr sterben 10 Millionen Menschen durch Hunger und mit Hunger verbundenen Krankheiten. Und von diesen 10 Millionen Menschen sind mehr als die Hälfte Kinder. Das sind 5 bis 6 Millionen Kinder, die jedes Jahr an Hunger sterben. Das ergibt ein Kind alle 5 Sekunden. Was auch bemerkenswert ist, ist, dass so wenig nötig ist, um diesen Hunger zu lindern. Ein amerikanischer Dollar kann so viel bewirken in der Nahrungsmittelhilfe für die, die an Unterernährung leiden.
Der Buddhismus lehrt uns, wie wir unsere Fähigkeit zur Weisheit entwickeln und auch, wie wir ein Herz voll liebender Güte und Mitgefühl ausbilden. Aber in unserer heutigen Welt ist es nicht genug, nur mit der Entwicklung von Liebe und Mitgefühl als inneren Qualitäten zufrieden zu sein. Wir müssen auch fähig sein, diese inneren Zustände in praktische Handlungen zu transformieren, die das Leiden anderer Menschen wirklich lindern.
Durch unsere Organisation „Buddhist Global Relief” wollen wir Menschen auf der ganzen Welt Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung stellen, vor allem in jenen buddhistischen Ländern Süd-Ost-Asiens, die unter Nahrungsknappheit und Unterernährung leiden.
Wir sind im Moment eine rein ehrenamtliche Organisation, und daher freuen wir uns über Spenden und Hilfe von allen, die helfen wollen. Wenn Sie mehr über unsere Organisation erfahren wollen, besuchen Sie bitte unsere Webseite www.buddhistglobalrelief.org
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und mögen alle guten Wünsche mit Ihnen sein!